Carl
Gibson
Eiszeit
– Zum Status quo Anno Domini 1981. 9
Das
SLOMR-Unterstützungskomitee. 18
Politiker-Los
– Ministerpräsident? Präsident? Senator! 19
Ankündigung
der UNO-Klage gegen das Ceauşescu-Regime. 24
Afrika
– und sein langer Weg zur Freiheit 27
Die
Fontänen von Genf - oder: Im Zweifel für die Freiheit 30
Schönheit
und Vergänglichkeit 33
Erzengel
Michael und Die Protokolle der Weisen des
Zion. 35
Hitlers
Paradigma – Antisemitismus und Hetze. 37
Sorgen
und Gefahr – eine Selbstapologie. 40
In
Bukarest. Freiheit und Menschenrechte für alle – Aufbruch im Morgenrot 46
Die
Mittel der Inquisition - oder: Die Grenzen des Menschen bei Folter 54
Am
Pranger - oder: Wie ein Schauprozess ins Wasser fiel 61
Pontius
Pilatus: Wenn sie sie schlagen wollen,
dann sollen sie sie schlagen! 64
Im
selbst gewählten Reigen – oder: Von passiver zu aktiver Dissidenz. 69
Pontifex Felix - der Musiker 70
Der
Alte – Aristokrat, Philanthrop und Mentor 82
Erwin
– Geist in der Revolte. 87
Brüder,
zur Sonne, zur Freiheit! Auf dem Weg zur Freien Gewerkschaft 93
In
der Deutschen Botschaft – Enthusiasmus und Desillusion. 99
Nick
und der Geist des Liberalismus. 104
Dialog
im Park – Entstehung und Erstickung einer Bürgerbewegung. 111
Im
Jakobiner-Club – Bürgerrechtler und Oppositionelle zwischen Konspiration und
Komplott? 119
Von
Abraham Lincoln zur CIA – oder: Von starken und von schwachen Präsidenten. 127
Das
Gründungsdokument – oder: Die Rose des Sozialismus. 135
Von
der Kunst der Fuga – Oder: Wo bleiben die Löwenjungen?. 140
Die
Liste wächst – oder: Vom Mut der Verzweifelten und vom Versagen der Eliten. 143
SLOMR-Präsident
Fenelon Sacerdoţeanu – Fels in der Brandung. 147
Machiavellische
Maskerade. 151
3.
Satz: Valse triste – Repression und Passion. 154
Die
Verhaftung – Treulich geführt 154
Die
Diktatur schlägt zurück – Die Erstickung der freien Gewerkschaftsbewegung. 157
Im
Kreuzverhör – oder: Über die peinliche Befragung im Sozialismus. 159
Die
Geißelung – Terror und Gewalt 160
Von
der unseligen Wiederkunft des Gleichen und vom Brechen des Willens. 169
Der
Tag danach – oder: Ein Paria und ein General 176
Vorboten
der Revolution von Temeschburg - oder: Wie man Studentenproteste erstickt 179
Ein
kurzer Prozess - oder: Vom
sozialistischen Ostrakismus. 181
Dekret,
Despotie und Kakophonie. 189
Proteus
– oder: Aus Liebe zur Wahrheit….. 193
Die Gedanken sind frei - selbst im
Kerker 194
Im
Bau - ein Tag aus dem Leben eines politischen Häftlings. 201
Allein,
doch nicht einsam - oder: Von innerer Freiheit 210
Auge
in Auge – oder: Ein Morgenspaziergang mit Aufpasser 217
Arbeit
macht frei – Suum cuique. 222
Charaktere
und Schicksale. 227
Von
der Freiheit des Denkens und vom Trost der Philosophie. 232
Zwischen
Melancholie, Euphorie und letzter Verlassenheit 236
Ein
Hirte aus dem Bergland - oder: Von der Freiheit, für seinen Glauben
einzustehen. 239
Religiöse
Dissidenz – oder: Von der Vision einer freien Kirche in einem freien Land. 241
Vom
Hungern und vom Borstenvieh. 247
Păcală
– ein Temeswarer Tschibeser 251
Eugen
Ionesco und die Meuterei auf der Bounty - oder: Literatur im Gefängnis. 253
Widerstand
im Loch - Vom starken Willen, vom gerechten Zorn und von der Würde des
Geknechteten 256
Musik
aus der Erinnerung und Hinwendung zum Metaphysischen. 265
Höhlenmelancholie
– oder: Vom Ewig Weiblichen. 268
Eine
Filmvorführung mit Überraschungen. 277
Eine
merkwürdige Begegnung. 282
Die
Partei, die Partei hat immer Recht…... 285
Elegie
– oder: Ein Abschied für immer 293
Ein
stiller Gruß auf dem Friedhof - oder: Von der Freiheit zum Tode. 297
Die
letzte Reise nach Bukarest - oder: Von der grenzenlosen Freiheit über den
Wolken. 304
Frei!
Von Frankfurt nach Franken – oder Heimkehr in die Fremde?. 308
Nürnberg
– Aus dem Gefängnis ins Lager 313
Rastatt
– Freiheit und Revolution. 321
In
freiheitlicher Mission – beim Sender Freies Europa in München. 324
In
Paris – am Born der Freiheit, bei der Liga für Menschenrechte. 329
Große
Geschichte – oder: Der Blick vom Turm.. 332
Ionesco,
Cioran und Eliade im Exsilium – oder: Vom großen Irren und vom Schweigen. 335
CIEL
– Ein Europa der Freiheiten und ein
Academicien als Mentor 342
Ein
Rendezvous mit dem zwangsexilierten Dissidenten Paul Goma. 343
Initiation
- Ein Anders-Denkender am Höllentor 350
Rodin
– und die Trias als Humanum.. 352
Freiheit
, Ethos und Existenz – Von der seltsamen Metamorphose früher Ideale. 354
In
London bei Amnesty International 357
On
Liberty am Speakers’ Corner. 360
Mit
Nyula am Kamin…und an der Tafel 363
Irrungen,
Wirrungen und starre Statuten. 367
Kreuzberger
Krawalle – oder: Macht kaputt, was euch
kaputt macht 382
Gesichter
der Freiheit – Ein Blick über die Mauer 383
5.
Satz: Rhapsodie in Moll…und Dur 390
Ost-West-Dialog
im Zug nach Genf - 392
Unter
Basilisken - Reminiszenzen. 404
Vor
Lausanne: Ion Caraion - Stimme der Freiheit und nationales Gewissen? Eine
Apologie! 411
Januskopf
und Chamäleon oder Opfer des langen Arms der Revolution?. 417
Existenz
und Ethos – Haltung und Botschaft 421
Die
Jagd auf den toten Dichter – und moralische Entrüstung. 425
Das
Stockholm-Syndrom und ein Pakt mit dem Teufel?. 427
Die
UNO-Klage. Eine völkerrechtliche Disputation - oder: Von der Freiheit der
Lüge. 431
Ein
Signal – Bilanz, Wertung und Konsequenzen der UNO-Klage aus heutiger Sicht 437
Intellektuelle
Distanzierung – Tudoran und Tismăneanu. 441
Der
Tod geht um – Marin Preda, prominentestes Opfer?. 443
Der
Mord an Gheorghe Ursu. 444
Die
Weiße Rose von Bukarest –
individuelle und kollektive Protestaktionen. 445
Der
Lotse geht von Bord…und die Ratten folgen – Deja- vu?. 451
Über
den Zinnen von New York. 454
Epilog:
Quo vadis, Romania?. 457
Im
Rausch der Freiheit – oder: Rumänien nach der Revolution von 1989. 457
Zeitkritik
- die Umbruchsituation aus der Sicht des engagierten Poeten Mircea Dinescu. 458
Die
Proklamation von Temeschburg –
Paradigma demokratischer Neuorientierung. 462
Rumäniens
schwierige Rückkehr nach Europa – zum Status quo heute. 465
Dissidenten-Schicksale
nach dem Umschwung. 465
Vergangenheitsaufarbeitung,
Vergangenheitsbewältigung und die obskure CNSAS. 467
Vom
Sturz der Ikonen – Fakten oder Desinformation und Manipulation?. 469
Demagogie,
Hetze und offener Antisemitismus heute. 474
Absetzung
und Kritik aus dem Ausland – Ein Glaubwürdigkeitsproblem?. 478
Unzulänglichkeiten
und Diskrepanzen. 481
Die Wahrheit wird euch frei machen. 485
Gegen den
Strom -
Deutsche Identität und
Exodus
Erinnerungen
aus Temeschburg und dem Banat
in
autobiographischen Skizzen, Reflexionen und Essays
Motto:
Ecce Homo
Ja, ich weiß, woher ich
stamme!
Ungesättigt gleich der
Flamme,
glühe und verzehr ich
mich.
Licht wird alles, was ich
fasse,
Kohle alles, was ich
lasse,
Flamme bin ich
sicherlich.
Friedrich Nietzsche
Präludium:
Ein Fisch im Wasser 5
Stadtluft
macht frei – oder: In der Freistadt
Temeschburg geboren. 6
Im
Heidedorf Sackelhausen daheim - oder: Viele Identitäten und ein Selbst
7
Jenseits
von Sodom, im Garten Eden. 16
Die
Freiheit der Kindheit und die Entdeckung der Welt – oder: Niederungen und
Höhen. 17
Im
Milieu der Anderen – oder: Die Freiheit der Zigeuner, ihre Sprache, ihre Musik
und Tanz 23
1.
Satz: Der Erde treu – oder: Zurück, zum Ursprung.
51
Banat
– Prosperität in kritischer Zeit
zwischen den Weltkriegen. 51
Von
Freidorf aus in die Unfreiheit – Die Verschleppung Volksdeutscher in die
Sowjetunion. 54
Verbannt
in die Wüste – Stalinistischer Revanchismus im Baragan.
58
Bedrohte
Freiheit. Das Trauma von 1968 - oder: Die Russen kommen!
60
Deutsche
Geschichte – Begrenzung oder Stimulans der Freiheit?.
67
Ethos
und Humanität - zwischen Leitsatz und Vorurteil
71
Herr
So ist das – oder: Menschen vor der Haustür
72
Der
Pictor - ein freigeistiger Maler in kunstfeindlichem Umfeld.
81
Aufforderung
zum Tanz – oder: Vom Reigen und vom Contredance.
85
Ethnische
Selbstbehauptung und Identitätswahrung.
91
Bildung
ist Freiheit - und Wissen ist Macht. Vom Ritus des Lesens.
95
Unter
dem Rad – Zwischen Hochdeutsch und schwäbischer Mundart
100
Ein
Liebling der Götter – oder: Von der Freiheit realsozialistischer Pädagogik.
104
Vom
Tuten und Blasen - und vom Singen.
110
Der
Homo novus des Sozialismus – oder: Der unfreie Mensch.
114
Geh zu Hitler - der böse Deutsche in Ideologie und
Alltag. 117
Lernt!
Lernt! Lernt! Vom Schüler zum Fabrikarbeiter
120
Die
Symbolkraft der Farben – oder: Zwischen Nationalismus und
Internationalismus. 130
2.
Satz: Das Kreuz und die Rose – oder: Allein in der Revolte.
137
ICHTYS
– oder: Vom religiösen Widerstand und von der Solidarität der Verfolgten.
138
Im
Zeichen des Kreuzes - oder: Provokationen vom Deutschen Orden zu Bismarck.
145
Unendlicher
Bolero – Reise nach Bukarest 156
Stalins
Schattenriss – oder: Vom großen Terror der Diktatur
171
Zuckerbrot
und Peitsche – oder: Vom Wesen der Securitate.
190
Bafta!
Von der weißen Magie schwarzer Leute – oder: Von der Freiheit des Okkulten.
196
Ideale
und Idole der Freiheit – Beethoven
und Schiller 204
Beben
und Erschütterungen. 209
Ein
langer Tag – Zwischen Dom und Kathedrale.
212
Am
Schwarzen Meer – Einübung in die Ars amatoria.
221
In
der Bastei. Signale der Freiheit - oder: Es gärt im Land.
232
3.
Satz: Am Scheideweg – Kampf oder Kompromiss?.
239
Auf
der Suche nach einer geistigen Heimat – oder: Der Poet um die Ecke.
239
Im
Umfeld der Aktionsgruppe Banat
243
Verfolgung
– totalitäre Linke gegen linke Demokraten.
245
Symbole
ostdeutschen Widerstands – Wolf Biermann und Robert Havemann.
247
Club
der Chamäleons – Einblick in den Adam-Müller-Guttenbrunn-Literaturkreis.
252
Kunst
zwischen Kompromiss und Schizophrenie.
254
Gebt
Gedankenfreiheit – oder: Von der unfreien Presse im real existierenden
Sozialismus. 255
Nikolaus
Berwanger – Biedermann oder geistiger Brandstifter und aktiver
Kollaborateur?. 257
Das
Scheinen der Scheinwelt – oder: Inszenierte Dichterlügen.
267
Die
falsche Metapher – Siebenbürger
Autoren auf dem Weg zum Schafott
271
Solidarität
und Moral im Fall Totok - Zwischen geistiger Opposition und loyaler Kritik?.
273
Gehalt
und Gestalt – und ein Hauch Polemik.
279
Brecht
und Celan – oder: Vom Realismus zum Surrealismus und zur Hermetik.
281
Von
Sinn und Form und Unsinn. 285
Aus
dem Tagebuch eines Kritikers – Von der Freiheit, mit dem Hammer zu dichten.
287
Le
Grand Macabre als neue Ästhetik des Schrecklichen.
289
Vom
aufgegebenen Ethos und vom Frust der Unverstandenen.
291
Das
Refugium auf dem Land - oder: Schöpferische Freiheit in freiwilliger
Abgeschiedenheit 293
Ein
melancholisches Dreigestirn und befreiende Musik – Lenau, Heine, Nietzsche und:
Mozart 299
Einsamkeit
und Freiheit – oder: Vom künstlerischen Schaffen im Untergrund.
304
Durch
diese Straße muss er kommen! Ceauşescu streift Sackelhausen – Ein
Déja-vu-Erlebnis 308
Heim
ins Reich - oder: Der Kanzler als Katalysator des Exodus.
322
Warten
auf …den Pass – oder: In den Vorhallen des Orakels.
326
Von
der Freiheit der Verweigerung. 329
Gebeugte
Häupter bleiben vom Schwert verschont – also duckt euch!
333
Die
Loreley am Pontus und eine unheiligen Madonna.
339
In
Angst und Verzweiflung- oder: Ein gescheiterter Fluchtversuch an der Donau.
344
5.
Satz: Nachklänge der Freiheit - Vom
Ideal zur Wirklichkeit 358
Das
Jekyll & Hyde-Syndrom - Schizophrenie zwischen Identitätsfindung und
Identitätsverleugnung 358
Paradies
mit Tücken - Meersburg am
Bodensee. 359
Rottweil
– Lieber rot als tot
367
Verlorene
Illusionen – oder: Von Opfern der Freiheit
370
Kurzes
Wiedersehen bei Felix in Dortmund – oder: Ein verfrühtes Requiem..
374
Deutsche
Identität und Verkehrte Welten - oder: Von der Freiheit, betroffen zu sein.
381
Vom
Ungeist des Hasses und von der Macht des Ressentiments.
389
Die Wahrheit wird euch frei machen –
oder: Von Wahrheit und Freiheit im Rondo.
392
Loyale
Kritik und Empörung? Oder: Ein vielsagender Brief
402
Intellektuelle
Redlichkeit oder ideologisch motivierte Hetze? Zum Feindbild der Herta
Müller 408
Von
der Rückseite des Mondes – oder: Eine verhängnisvolle Rezension.
414
Ob
Dichter lügen? Von Gesetzen der Perspektive und folgerichtigen Schlüssen.
416
Das
Banat – Hölle auf Erden, Locus
terribilis, von Hass erfüllt und von
Rückständigkeit geprägt
417
Cui
bono? Subjektive Literaturrezeption – Hetze oder Spaltung?.
418
Tabubruch
oder Blasphemie?. 421
Freie
Dichtung oder Wahrheit?. 423
Satire
oder Beleidigung und Stigmatisierung?.
425
Werke der Freiheit und Phänomenologien der Freiheit – Bei Heideggers Erben in
Würzburg 431
Gaya scienza im Elfenbeinturm mit Theo
und Freunden. 437
Kreuz
und Rose – und die Schlange, die sich in den Schwanz beißt
441
Bad
Mergentheim oder Lawrence, Missouri? Ein neuer Anfang in der Neuen Welt?.
445
Michael
Gorbatschow – oder: Vom späten Triumph der Freiheit
451
Die
Matroschka – Sowjetische Geschichte im Zeitraffer
455
Wer
zu Späth kommt, den bestraft kein
Leben! 458
Freiheit
schöner Götterfunken. 462
Weshalb
schreibt ein Freigeist eine Symphonie?.
465
Leseprobe: Auszug aus: Symphonie der Freiheit
Am Spätnachmittag, nachdem der Bericht
vorerst beendet war, nutzte ich dann die verbliebenen zeitlichen Freiräume, um
Genf zu erwandern. Schließlich wollte ich mehr von der Stadt sehen, die mich so
sehr an Bukarest erinnerte, von der schönen Stadt am See, wo zwei so
unterschiedliche Charaktere wie Jean-Jacques Rousseau und Francois-Marie Arouet,
weltbekannt geworden als Voltaire, jeweils auf ihre Weise die geistige Schlacht
für die Freiheit geschlagen hatten.
Ungeachtet des scharfen Kontrastes schätzte ich beide – und beide Idealisten
schenkten mir viel.
Calvin, der strenge Determinist, der die
gleiche Freiheit nur begrenzt, ja in
Fesseln gelegt hatte, indem er dem Menschen die Vorzüge absprach, einen freien
Willen zu besitzen, für Freiheit einzutreten und sie umzusetzen, interessierte
mich weniger. Irgendwo in der Altstadt hatten ihm seine Anhänger ein Denkmal
gesetzt. Doch in meinen Augen war der puritanische Reformator eher ein Despot,
ein radikalisierter Savonarola, der den Menschen nur als Werkzeug Gottes sah, im
Prinzip nicht viel anders als die Atheisten der Neuzeit nach der
Oktoberrevolution, als die ideologisierten Marxisten im Ostblock mit ihrer
ebenfalls deterministischen Vorstellung, der Mensch sei eigentlich unfrei; er
agiere und reagiere nicht anders als über den konditionierten Reflex – gleich
einem Hund, dem man den abgenagten Knochen zuwirft oder wie ein Tanzbär, dem mit
glühenden Eisen die einzelnen Dressurbefehle eingeätzt wurden, um sie später auf
Kommando wieder abzurufen: Der Mensch als Tanzbär mit einem Ring in der Nase, an
welchem ein dogmatischer Ideologe zieht! Welch eine
Vorstellung!
Zunächst konzentrierte ich mich auf das
moderne Genf, in dessen Mitte ich mich gerade befand, bevor ich mich den
Strukturen der Altstadt mit ihrer wechselvollen Geschichte zuwandte. Auch das
neue Genf hatte seinen Reiz. Vieles, was ich von fern aus dem vorbeifahrenden
Auto gesehen hatte, konnte ich jetzt genauer betrachten und geistig vertiefen.
Als ich am Palais des Nations vorbei kam, spürte ich Lust, wieder hinein zu
gehen, um vielleicht doch noch an die Tür des Hochkommissars für Flüchtlinge zu
klopfen. Möglicherweise konnte er doch mehr für die zurückgebliebenen Verfolgten
bewirken als die Hilfsorganisation amnesty international, die mich in
London so sehr enttäuscht hatte. Doch bald verdrängte ich den Gedanken wieder,
da mir ein klares Konzept für weitere Bemühungen fehlte, und promenierte weiter
zum Seeufer hin.
Hier irgendwo, nicht weit von der
Uferpromenade, war Sissi erdolcht worden, die melancholische Kaiserin von
Österreich, die oft und gern hierher gereist war, bevor sich ihr Schicksal
vollendete. Während ich in die Weite des stillen Sees hinaussah, blieb mein
Blick an dem künstlichen Wasserstrahl hängen, der die gesamte Kulisse bestimmte,
an dem mächtigen Jet d’ Eau am Pier, der, einem Geysir gleich, gewaltig in das
Blau des Himmel schoss – ein Sinnbild für etwas, was zu höheren Sphären strebt,
für die Hoffnung vielleicht, oder die Freiheit… - ein schönes Schauspiel.
Am Ufer angekommen vergaß ich die
Menschen um mich herum und gab mich, die Augen immer noch in die Ferne
gerichtet, der stillen Betrachtung hin. Vom Genius des Ortes ergriffen, sah ich
eine Weile auf den See hinaus, in dessen ruhenden Fluten sich die Sonne
spiegelte. Ein Meer von Silber breitete sich aus, eine Welt von Licht. Wie ein
Landschaftsmaler in harmonischer Natur, saß ich inmitten eines Stilllebens –
nunc stans, großer Mittag auch für mich.
Die Sonne stand hoch im Zenith! Was war
mit mir. Stieg mein Stern noch oder fiel er bereits? Eine Art mystische
Entrückung kam auf und eine sonderbare Sehnsucht nach einem Aufgehen im
Ewigen.
Die weißen Fähren und die vielen kleinen
festgemachten Boote im Hafen verwiesen auf die Unendlichkeit eines fernen
Ozeans, wohin das Wasser seine Zuflucht nahm. Hinter mir türmten sich,
schweigsam in Schatten gehüllt, die Alpen auf. Die Rhone kam durch ein breites
Tal herab, walzte sich ihre Bahn und floss unmerklich an mir vorbei durch den
See, quer durch das Juragebirge, bis hinab in ein ausgedehntes, seichtes Delta
am Mittelmeer. Das Dahinfließen dieses drittgrößten europäischen Stromes, an
dessen Gletscherquelle ich später einmal stehen sollte, faszinierte mich noch
mehr als die unergründliche Tiefe des Alpensees. Schließlich war ich doch ein
Fisch, ein Freund der Elemente, der schon mehrfach dem Lauf dieses Stromes bis
zur Mündung gefolgt war, bis in die Provence und nach Arles hin, in die alte
Römerstadt, wo Vincent malte, und darüber hinaus bis zum stillen Ergießen in der
sumpfigen Camargue. Ja, ich war ein Fisch im Wasser, der die Geborgenheit der
Tiefe suchte - und gleichzeitig die Unruhe des gegen den Strom
Schwimmens!
Konnte man als Fisch auch mit dem Strom
schwimmen? Auch in der Donau? Um dann irgendwann im fernen Rumänien ein anders
Delta zu erleben - und, nach langer Reise, im großen Ozean der unendlichen Freiheit aufzugehen? Sonderbare
Gedanken, an den bevorstehenden Aufgaben entzündet, zwischen Vergangenheit und
Zukunft oszillierend, mischten sich in die Reflexion und beendeten die
abschweifende Träumerei. Die Harmonien im Innenohr
verklangen.
Den Abend verbrachte ich mit Ion und
anderen im Genfer Exil lebenden Rumänen im Haus eines politisch Interessierten,
der zum Essen geladen hatte. Zunächst wurde getafelt. Ganz der schweizerischen
Küche entsprechend, die ich bereits in Zürich schätzen gelernt hatte, solide mit
mehreren Gängen, auf beachtlichem Niveau. Der französische Einfluss war nicht zu
verkennen. Es gab Jakobsmuscheln mit Chablis, Filetspitzen á la Stroganoff mit
einem Tropfen aus Chateauneuf du Pape und überbackenen Ziegenkäse als Dessert.
Anschließend gingen wir bei Cognac und Zigarren zu Gesprächen über.
In der Männerrunde wurde viel diskutiert
- mit romanischer Leidenschaft. Man sprach zunächst recht allgemein über
politische und makropolitische Entwicklungen und über die Möglichkeiten, wieder
demokratische Strukturen in den Staaten des Ostblocks durchzusetzen. Die
Solidarnosc-Bewegung hatte neue Hoffnungen geweckt. Der Grundton blieb trotzdem
skeptisch, denn aus Rumänien kamen keine erfreulichen Nachrichten. Und auch die
humanitären Bestrebungen der Charta
77 unter Vaclav Havel, dem späteren Präsidenten Tschechiens, und anderen
ehemaligen Dissidenten wie Cestimir Suchy, dem Fensterputzer, waren im Sand
verlaufen. Was aus der vor unseren Augen abrollenden revolutionären
Gewerkschaftsbewegung Solidarnosc in
Polen unter Arbeiterführer Lech Walesa noch werden sollte, war ebenso ungewiss.
Doch die baldige Verhängung des Kriegsrechts erwartete
keiner.
Während die von uns gebildete Abordnung
der Freien Gewerkschaft rumänischer Werktätiger im Westen inzwischen alle Hebel
in Bewegung setzte, um über die ILO das Regime Ceauşescus formaljuristisch wie
moralisch zur Rechenschaft zu ziehen und zur Raison zu rufen, war General
Jaruzelski in Polen bereits im Begriff, die Verhängung des Kriegsrecht
vorzubereiten und die Arbeiterbewegung, der inzwischen zehn Millionen Polen
angehörten, zu verbieten und damit endgültig abzuwürgen.
Parallel zu den Klageaktivitäten hatte
ich als designierter SLOMR- Sprecher ein Solidarisierungsschreiben an die Solidarität unter Walesa aufgesetzt, in
dem ich den rebellierenden Werktätigen Polens ihm Namen unserer inzwischen
unterdrückten freien Gewerkschaftsbewegung mehr Erfolg wünschte, als uns
beschieden war, und diesen Brief der Post anvertraut. Den Rückschein des
Einschreibens durfte ich leider nie in den Händen halten. Vermutlich ging er in
den Notstandsmaßnahmen unter, die einige Monate darauf von den Militärs über
Polen verhängt worden waren.
Am nächsten Morgen nahm ich mir etwas
Zeit und frühstückte gemächlich in einem Straßencafé. Es gab Café au lait mit
einem Buttercroissant, ganz so, wie ich es aus Frankreich kannte. Nach diesem
klassischen Morgenauftakt, der eher Appetit erzeugt, als den Hunger zu stillen,
begab ich mich in die City von Genf und durchstreifte vergnügt ihre
Gassen.
Genf war nicht viel größer als Freiburg,
mein späterer Studienort, nur vornehmer strukturiert und auf das Weltgeschehen
ausgerichtet – eine Metropole in Kleinformat. Nachdem ich einiges von den
Sehenswürdigkeiten der Innenstadt gesehen hatte, wollte ich wieder weg von der
Zivilisation, von der lauten Hektik der Stadt mit ihren geschäftigen Menschen.
Als Herr meiner Zeit und meiner Entscheidungen zog es mich zurück in die Natur,
ins Grüne, in eine jener dort häufig anzutreffenden, kleinen Parkanlagen, um für
ein halbes Stündchen zu rasten.
Ein Farbenmeer breitete sich vor mir aus
und manche mir fremde Blume als Kontrast zum satten Grün des Rasens im
Hintergrund, und dahinter, alles überlagernd, eine geordnete Welt von Rosen. Von
den vielen Tausend Hybriden, die weltweit existierten, manche in England, im
Land meiner Vorväter kultiviert, waren einige auch hier vertreten – weiße und
rote Rosen, die mich an die Rosen im Elternhaus und an den Rosengarten in
Temeschburg erinnerten. Mit der Erinnerung schlichen sich auch alte Stimmungen
ein, Reminiszenzen der Wehmut und der Sehnsucht, die mir bewusst machten, dass
ich eigentlich ein Exilierter war, ein Odysseus auf Wanderschaft, fern der
Heimat und längst nicht auf Rosen gebettet; dafür aber in einer fremden Stadt –
ubi bene, ibi patria? War das so? Die
Stadt war schön. Doch daheim war ich nicht, auch nicht als Weltbürger, als
Kosmopolit.
In die Betrachtung der Rosen vertieft,
aus denen Leben und Liebe, Schönheit und Reinheit sprechen, verfiel ich für
Augenblicke der Abstraktion, sah über den Reiz der Farben hinweg, über die
Pracht der Vielfalt, über den Wechsel der Gestalt und über die Verlockungen des
Duftes, der sich über den Pflanzen verbreitete und eine eigene Atmosphäre schuf.
Sehen konnte ich nur die eine Rose. Und in ihr – wie einst Platon - die Idee des
Schönen, die ich kaum losgelöst von Natur und Poesie erfassen wollte. In der
Rose, die auch Stacheln hatte, war alle Schönheit in sublimster Form vereint.
Musik aus der Erinnerung erklang in meinem Ohr - eine alte Weise, wehmütig
gesungen wie aus der Kehle eines Troubadours…A rose will bloom…und dann folgte ein
neue Melodie aus dem gerade erst gedrehten Spielfilm Die Rose, deren lebensphilosophischer
Text mich tief berührt hatte. Der Ohrwurm nahm mich gefangen und führte auf die
Pfade romantischer Dichtung zu Lenau hin und zu den Sonetten Platens, wo viel
über Schönheit und Sterben nachsinniert wird: Wer die Schönheit angeschaut mit Augen, Ist
dem Tode schon anheim gegeben, Wird für keinen Dienst auf Erden taugen, Und doch
wird er vor dem Tode beben, Wer die Schönheit angeschaut mit Augen! Der
Feingeist August Graf von Platen, von Heine verspottet und als Homoerotiker
denunziert und stigmatisiert, hatte die Verse wohl in Italien gedichtet,
möglicherweise in den Gärten der Medici? Zweitausend Jahre nach Platons
Gedankengängen. Unter Michelangelos Plastiken und Leonardos Gemälde vielleicht,
an der Quelle des Schönen?
Hier in Genf wirkten sie fort und riefen
auch im meinem Bewusstsein vieles von dem wach, was das wahre Menschsein
ausmacht. Neben der Ethik ist es vor allem der weite Bereich des Ästhetischen in
allen Formen der Kunst. Die Rose vor meinem geistigen Auge verwies
darauf.
Als ich so selbstvergessen
dahinschlenderte, wie das lyrische Ich in einem Goetheschen Blümleingedicht,
ohne Sinn und Zweck, schossen mir die unterschiedlichsten Gedanken durch die
Gehirnwindungen. Weshalb verharrst du nicht im Schönen, im Reich der Künste,
fragte ich mich. Was zieht dich sensiblen Geist in die Niederungen der
Politik?
War sie ein Irrweg oder ein
Notwendigkeit, eine Pflicht? Und durfte ich mich ihr aus egoistischen Antrieben
einfach entziehen? Wo begannen Bürgerpflicht und Weltbürgerpflicht? Und wo
endete die Verantwortung für Umwelt und Welt?
In der Nähe eines Springbrunnens
entdeckte ich eine freie Bank, ging darauf zu und setzte mich nieder. Wieder kam
die Poesie zurück. Der Kopf war voll davon – wie bei den frühen Dadaisten, bei
Tzara – le tête pleine de poésie – und bei den eruptiven Expressionisten der
Jahrhundertwende, wie bei Aragon, Picasso, Cocteau und bei Paul Eluard, der ein
Gedicht auf die Freiheit gemacht
hatte, ein berühmtes Gedicht! In der Gefängniszelle war es mir immer wieder
durch den Kopf geschossen…Liberté…
J’ecris ton nom…
Die ganze Welt war eigentlich eine Welt
der Poesie. Gleiche Beobachtungen führen nicht nur zu ähnlichen logischen
Schlüssen, sondern auch zu tiefen Empfindungen bis hinein ins Symbolische, ja
selbst ins Archetypische und Mythische; zum Heiligen und wieder zurück in die
Welt des Profanen. Alles war ein Geben und ein Nehmen, ein Spenden und ein
Schenken aus der Überfülle heraus.
Das Auf und Ab der Fontänen führte fast
zwanghaft zu Conrad Ferdinand Meyer, zu jenem hochdepressiven Ästheten aus der
Familie der Melancholiker, der dem Geist der Renaissance so nah auf der Spur war
wie sein schweizerischer Landsmann Jakob Burckhardt; dann unweigerlich zu dem
reisenden Poeten Rilke. Beide, Meyer und Rilke, hatten den Brunnen besungen und
mein Element – das Wasser, das strömt und schwindet, aus dem alles emporsteigt
und vergeht.
Das Geben und Spenden ihrer Brunnen,
Quellen und Fontänen drang rauschend in mein Ohr und deutete auf den ewigen
Kreislauf des Wassers hin als ein ergreifendes Sinnbild des Werdens und
Vergehens alles Zeitlichen.
Um mich – ein Meer der Farben; der Locus
amoenus des Ufers noch einmal als freudige Wiederkunft des Gleichen. Nietzsche
saß vielleicht auch einmal hier auf seiner Wanderschaft durch die Schweiz, neben
Meyer und Burckhardt und Rilke, bevor es sie alle nach Florenz zog in andere
Gärten und zu anderen Fontänen?
Die Farbenwelt der Impressionisten und
Expressionisten vermischte sich. Das Grün in allen Nuancen, vom milden
Lindengrün bis ins fetter grünende Olivgrün der mediterranen Welt, durchdrang
sich mit dem vielfältigen Blau des Wassers, das Licht einfing und anderes Licht
preisgab in allen Variationen des Regenbogens.
Das Wechselspiel faszinierte als ewige
Wiederkehr, aber auch als ein Fingerzeig der Gottheit auf die Vergänglichkeit
aller Dinge, die jedem Neuwerden vorausgeht. Die verborgene Künstlerseele
erbebte.
Dabei steigerte sich die sanfte Wehmut
unmerklich zu ernster Melancholie. Resignative Gedanken schlichen sich ein in
die Welt der Schönheit, der immer auch die Vergänglichkeit innewohnt. Dass alles Schöne muss vergehen/ und auch
das Herrlichste verwehen, die Klage stets auf Erden klingt, klagte Lenau im
Motto seiner freien Albigenserdichtungen, die vom Niedergang der blühenden
Provence künden. Gerne folgte ich ihm. Wer sich in eine Stimmung begibt, wird
ihr Opfer und verfällt ihr. Doch mein Anflug von Trauer hatte diesmal auch
andere Gründe.
Nicht alles, was ich am Vorabend hören
musste, hatte mich begeistert. Eine Exilgesellschaft ist pluralistisch und bunt.
Sie wird von verschiedensten Individuen getragen, die charakterlich sehr
unterschiedlich sein können. Dementsprechend divergieren auch ihre politischen
Ansichten, Meinungen und Überzeugungen. In der Runde hatte ich manches Gescheite
vernommen; aber auch viel Rückwärtsgewandtes, Zynisches, ja selbst
Antisemitisches war zu meinen Ohren gedrungen. Dabei merkte ich wieder, wie
schwer es eigentlich war, Menschen für eine bestimmte Idee zu begeistern und
hinter eine Sache zu scharen. Jeder bringt sich mit ein in eine solche Runde, so
wie er ist. La Bruyère wusste davon und La Rochefoucauld.
Es war viel über die jüngste Geschichte
gesprochen worden, über König Michael, der sich zeitweise hier im Genfer Exil
selbst als Börsenmakler über Wasser halten musste, und über Staatschef
Antonescu, der seinerzeit autokratisch, ja diktatorisch regiert hatte; der, um
Hitler zu gefallen, die vier Jahre währende Allianz der rumänischen Truppen mit
der Wehrmacht herbeigeführt hatte.
Inzwischen ist er zur Hälfte
rehabilitiert worden – und König Michael lebt auch wieder in Bukarest, als
Privatmann.
Einige aus der Runde verehrten Marschall
Antonescu über den Weltkrieg hinaus und sahen in ihm schon damals einen
wahrhaftigen Patrioten, einen Befreier des Vaterlandes, der aus dem Antrieb
handelte, Rumänien in einem Präventivschlag gegen den Sowjetimperialismus zu
schützen.
Am Vorabend war auch über den Umsturz
nach der Entlassung Antonescus durch den König gesprochen worden; über den so
genannten königlichen Putsch; über
Ereignisse, die heute schon wieder heroisiert werden. Auch über den damit
zusammenhängenden Abfall Rumäniens vom Deutschen Reich; über die Machtergreifung
der Kommunisten und Stalinisten - somit über historische Begebenheiten von
besonderer Tragweite, die ich in meiner Jugend weitgehend nur aus der
willkürlich verfälschten Perspektive marxistischer Geschichtsinterpretation
kannte.
Nach den wechselvollen Eindrücken am
Vorabend fühlte ich mich nun kaum in der Lage, die Materie kritisch zu bewerten.
Gleichzeitig stiegen destruktive Gedanken in mir hoch. Von bestimmten Positionen
einzelner Gesprächsteilnehmer relativ enttäuscht fragte ich mich, ob die am
Vortag erlebten Menschen überhaupt zuverlässig und integer waren; oder ob sie
nicht gar obskuren Tätigkeiten nachgingen.
Einige der bürgerlich wirkenden
Teilnehmer erschienen mir weltanschaulich ultrakonservativ und stark
rechtslastig. Gelegentlich hatte ich den Eindruck gewonnen, gerade die
Biedermänner aus dem Kreis stünden der faschistisch ausgerichteten Eisernen
Garde von Câpitan Codreanu immer noch geistig nahe. Die schon tot geglaubte Legion des Erzengels Michael war also
noch am Leben und quicklebendig? Die Faschistenorganisation, ein ultraradikaler,
religiös motivierter und rassistischer Zusammenschluss, dem Ku-Klux-Klan nicht
unähnlich, fühlte sich wohl immer noch berufen, den Griff zur Weltherrschaft
durch angebliche Zionisten verhindern zu müssen?
Ein Mitgefangener, der die faschistische
Diktatur in Rumänien nach der Abdankung König Karls noch selbst erlebte, hatte
mir einiges aus jener Zeit geschildert. Mit schwacher Stimme hatte er mir die
Hymne ins Ohr gesungen, die Codreanu gewidmet war, dem Capitan und die
seinerzeit von Pfadfindern und Schülern gesungen werden
musste.
Auch Ion Caraion, der expressionistische
Dichter und Essayist, der seit einiger Zeit ein Steinwurf weiter, in Lausanne
lebte, hatte mir von den Braunen berichtet und davon, wie er als
Linksintellektueller von diesem Leuten gejagt und als Sympathisant der
Kommunisten auf eine Todesliste gesetzt worden war. Und
jetzt?
Einer der Teilnehmer, ein dürres Männchen
mit Hakennase, öltriefendem schwarzem Haar und einem schmalen
Oberlippenbärtchen, eine Gestalt mit einer Physiognomie, die an einen
sizilianischen Gangster erinnerte, war am Vorabend an mich heran getreten und
hatte mir geheimnistuerisch ein paar schlecht gebundene Photokopien in die Hand
gedrückt, die er für einen Schatz, ja für eine Offenbarung hielt.
„Liebling“, hatte mir der Schmierige
vertrauensvoll zugeflüstert in einer Art, wie ein Verschwörer zum anderen
spricht, wenn er ihm ein großes Geheimnis anvertraut:
„Hier habe ich etwas ganz Besonders für
dich! Die Protokolle der Weisen von
Zion! In französischer Sprache, sub rosa, versteht sich. Es gibt kaum
Übersetzungen davon! Auch sind nur wenige Exemplare davon im Umlauf! Studiere
diese Schrift mit ganzer Aufmerksamkeit, damit auch dir bewusst wird, wer in der
Welt das eigentliche Sagen hat.“
Etwas konsterniert hatte ich die Texte
entgegen genommen und einige oberflächliche Blicke darauf geworfen. Ihr Geist,
das war gleich zu erkennen, entsprach etwa den Biertischparolen, die ich so ganz
nebenbei in den Diskussionen vernommen hatte. Sprachlos, ohne in der Lage zu
sein, irgendeinen Kommentar abzugeben, hatte ich mich dann zurückgezogen. Es war
ein Affront – und irgendwo fühlte ich mich brüskiert und missbraucht. So etwas
hatte ich nicht erwartet, nicht hier in Genf, an der Schlagader der Freiheit!
Nun saß ich auf einer grün gestrichenen
Holzbank und hielt das offensichtliche Machwerk in zittrigen Händen. Was sollte
ich damit anfangen? Während des Frühstücks im Cafe hatte ich es nochmals
durchgeblättert und weitere Passagen gelesen. Jetzt sah ich noch genauer hin,
las erneut und reflektierte… Es war ein offensichtliches Pamphlet gegen Juden,
konstruiert und boshaft, das irgendwo im Russland des späten 19. Jahrhunderts
von obskuren Gestalten zusammenkompiliert worden war, um den aufkommenden
Liberalismus beim Zaren zu diskreditieren. Die Schmähschrift war so verfasst,
als hätte der anonyme Autor eine Geheimsitzung führender Rabbiner belauscht.
Erregung überkam mich, als ich in den sonderbaren Protokollen, von deren
Existenz ich schon früher gerüchteweise gehört hatte, weiter las.
Es war offensichtlich ein Werk gezielter
Hetze, das ich in den Fingern hielt. Erstaunt und irritiert zugleich sah ich
alles wieder durch, las dies, las jenes, ohne rechte Lust und ohne rechten
Zugang. Eine abstruse These jagte die andere, fern von jeder Logik und jeder
inneren Schlüssigkeit. Die Zeilen richteten sich eindeutig an einfache Menschen
mit einem naiven, unkritischen Bewusstsein, an vorrevolutionäre Parteigänger im
zaristischen Russland, die für Weltverschwörungstheorien so zugänglich waren,
wie sie an die Macht des Leibhaftigen glaubten. Es war eine Doktrin, gedacht für
empfängliche Ohren. Geglaubt werden sollte nur das, was dort zu lesen war, doch
nicht durchdacht.
Weshalb sollte nun auch ich den perversen
Gedanken krankhafter Gehirne folgen, die für sehr schlichte Gemüter gestrickt
waren? Die Fiktionen mit den zahlreichen Unterstellungen dienten eindeutig der
Hetze. Das war reinste Hetze! Und dazu noch hier in der neutralen Schweiz, im
Herzen der offenen Weltstadt Genf, wo der eine oder andere orthodoxe Chassidim
ahnungslos an mir vorüber ging? In der Schweiz fühlten sich die Juden noch
sicher. Doch waren sie es wirklich?
Die Schrift, die ich gerade erst aus den
Händen biedermännischer Brandstifter erhalten hatte, sprach dagegen. Andere
Erschütterungen der Seele kamen auf, jenseits jeder Ästhetik. Hetze, ganz egal
gegen wen sie gerichtet ist, ist an sich immer krankhaft und falsch. Sie säht
nur Hass und schafft nur Feindschaft.
Trotzdem zwang ich mich dazu, das
Pamphlet nicht wegzulegen, sondern noch einiges davon intensiver zu studieren,
um klarer zu sehen. Wer kritisch in Mein
Kampf las, konnte erahnen, wem er als Wähler in der Person Hitlers zur
politischen Macht verhalf. Also las ich mit Verwunderung und Abscheu und mit den
Bauchschmerzen, die mir später noch andere Hetzliteratur aus unscheinbarem
Umfeld verursachen sollte. Einiges erschien mir enigmatisch konfus und verworren
wie die Prophezeiungen des Nostradamus, anderes wirkte nur aufgesetzt plump und
schlechthin dumm. Wer wollte diese abstrusen Androhungen von Terror und andere
ähnlich Behauptungen für bare Münze nehmen? Wer wollte ihnen Glauben schenken?
Leute, die nur zusätzliche Argumente für eigene Rassentheorien suchten, Leute
wie Hitler?
Er, der Menschheitsverbrecher, hatte es
tatsächlich getan!
Langsam wurde mir bewusst, was ich vor
den Augen hatte: einen Klassiker des Antisemitismus! Ein konstruiertes Pamphlet,
das direkt zum Antisemiten Hitler führte. Hitler hatte dieses Machwerk nicht nur
gekannt, sondern sogar verschlungen, bevor er die dort exponierten Thesen in Mein Kampf auf seine Weise umsetzte.
Hitler hielt die Protokolle der Weisen
von Zion für authentisch. Er glaubte an eine jüdische Weltverschwörung und
an die Essenz der Hetzschrift, alles Übel der Welt komme von den Juden. Der
bekannte preußische Historiker Heinrich von Treitschke hatte es bereits auf den
Punkt gebracht: Die Juden sind unser
Unglück! Und Goebbels und andere Nationalsozialisten hatten es im Geist des
Führers global ausgeweitet: Die Juden
sind an allem schuld!
Der gesamte abendländische
Antisemitismus, vom Gottesmördervorwuf, über den Brunnenvergiftervorwurf bis hin
zum weltanschaulichen Vernichtungskrieg im Osten und zur Shoa, erschien mir in
diesen wenigen Worten zusammen gefasst. Die alten Parolen der
Nationalsozialisten stiegen in mir auf –
Hetztiraden, die der Führer selbst und zwei seiner loyalsten Paladine,
Goebbels und Himmler, immer wieder in die Welt gesetzt hatten als Zündstoff für
einen Weltenbrand, der auf Deutschland und die Deutschen in aller Welt
zurückfallen sollte - auch auf mich.
Kam jetzt wieder alles hoch? Kroch das
Böse, die Ankunft des Antichristen und die herannahende Herrschaft des
Teufels auf der Erde, die Sergej Nilus 1905 den Juden angedichtet hatte,
wieder aus den Löchern?
Das Menschenverachtende, das Zynische,
das offensichtliche Boshafte, das reine Böse? Mir wurde leicht übel, als ich
weiter darüber nachdachte. Woher kam dieser unselige Hass des Menschen auf den
Menschen? Homo homini lupus statt eines Humanum? Bisher hatte ich nur wenige
Juden kennen gelernt – doch das waren liebe, nette, freundliche Menschen. In
Temeschburg hatte ich kaum Antisemitisches vernommen, bis auf einige
Schimpftiraden, die vor allem im kriminellen Milieu unreflektiert nachgemurmelt
wurden. Die Juden fühlten sich wohl in unserer Stadt.
Und sie waren schon vor den Deutschen und
den Rumänen dort heimisch. Als Prinz Eugen im Jahr 1716 die Festung Temesvar
befreite und – in einem Akt von Menschlichkeit und Gnade - alle Türken abziehen
ließ, sie mit Mann und Maus gehen ließ, waren nur einige Serben, Armenier und
Juden zurück geblieben - eine Handvoll Juden, aus welchen in nur zweihundert
Jahren Zehntausend wurden, bis Ceauşescu sie verkaufte und für ein paar Dollar
mehr auch ihren Exodus ins Gelobte Land ermöglichte.
Die Juden hatten sich stets wohl gefühlt
in Temeschburg, an jenem kultivierten Ort der Toleranz, bis der Ungeist der Zeit
auch ihn erfasste. Ja selbst in der Zeit des Stalinismus, zogen manche aus
Tschernowitz, der Bukowina und aus Jassy vertriebene Juden es vor, in
Temeschburg zu leben, in einem geistigen Zentrum des Kosmopolitismus, das
sprachlich wie kulturell dem Aufgegebenen ähnlich war, in dem aber vor allem
eine Atmosphäre der Menschlichkeit herrschte, ein Geist praktizierter
Humanität.
Während ich über solche Aspekte
nachdachte, stieg erneut wütende Erregung in mir auf und vertrieb die
heranschleichende Nostalgie auf einen Schlag. Ein Furor kam auf, der nicht
poetischer Art war und nach dem reinigenden Flammenschwert des Erzengels
verlangte – oder nach jenem Knüppel aus
den Sack aus dem Hausmärchen der Gebrüder Grimm, dessen Zielrichtung
Heinrich Hoffmann von Fallersleben, der deutsche Patriot und Dichter der
Nationalhymne, ausweitete: aufs
Lumpenpack! Auch cholerisches Feuer kann reinigend wirken - wie der Zorn der
Gerechten, dies irae…dies illa. Mozart hatte den alten Aufschrei genial in Musik
gesetzt…
Wutentbrannt nahm ich das boshaft
ersonnene Phantasieprodukt und riss es mit Kraft entzwei. Dann alles noch einmal
und erneut, bis der Furor erloschen war und ich nur noch einen Haufen schwer
rekonstruierbarer Papierschnitzel in der Hand hielt.
Während ich so raste wie ein kleiner
Exorzist, der böse Dämonen austreibt, in aufrichtiger Betroffenheit und
Enttäuschung über den Menschen, der unfähig ist, aus den Lehren der Geschichte
richtige Schlüsse zu ziehen und für sein künftiges Handeln etwas zu lernen, trat
eine greise Frau an mich heran. Sie hatte mein ihr unerklärliches Erzürnen von
einer nahen Bank aus beobachtet. Leicht verunsichert, doch erfüllt von
moralischer Entrüstung, sprach sie mich in feinstem Französisch an:
„Was machen Sie denn da, mein Herr?
Vernichten Sie etwa ein Buch?“
Ich blickte auf wie einer, der in
Kontemplation versunken, seine Kreise zeichnet und dann gestört wird. Nach einem
Augenblick des Bedenkens erwiderte ich trocken, doch nicht
unfreundlich:
„Ja, Madame! Dieses hier würde ich am
liebsten verbrennen!“
Die Alte, sie hatte bestimmt beide
Weltkriege überstanden, stierte mich für Sekunden konsterniert an und verharrte
sprachlos. Dann wandte sie sich enttäuscht ab und ging weiter, ohne zu ahnen,
dass meine Enttäuschung noch größer war als die ihre. Wie hatte es Heine
ausgedrückt: Wo man Bücher verbrennt,
verbrennt man am Ende auch Menschen!
Heine dachte vorausschauend, eben weil er
historisch dachte und aus der Geschichte die eigentlichen Konsequenzen herleiten
konnte. Für Momente hatte ich der bitteren Ironie vertraut, die nicht erfasst
worden war. Jetzt lag ein Vorwurf unausgeräumt in der Luft und erinnerte an den
Ungeist der Inquisition, der Hexenverbrennungen und an das Wüten der NS-Schergen
– doch was sollte ich in dieser Situation tun?
Vor Tagen war ich noch als Idealist
angereist, als einer, der etwas bewegen wollte – und nun dies…Die Papierfetzen
verteilte ich dann auf mehrere Müllbehälter am Wegrand, so dass der unselige
Mist nie wieder zusammengefügt werden konnte, einem korrupten Politiker oder
Waffenhändler gleich, der seine zerrissenen Auszüge wegwirft, nachdem er das
Guthaben seines Nummernkontos überprüft hat. Gleich fühlte ich mich reiner.
Während ich davon schlich, legte sich die Erregung kaum. Die Nachbeben der Wut
entluden sich in Niedergeschlagenheit.
War alles umsonst? Neue Bedenken kamen
auf. War ich nunmehr vom Regen in die Traufe gelangt? Und drohte mir hier
womöglich eine andere Instrumentalisierung? Ein Missbrauch durch ewig Gestrige,
durch fanatisierte Reaktionäre, durch Sympathisanten der längst erloschen
geglaubten Legion des Erzengels
Michael?
Der Erzengel mit dem Flammenschwert,
welch ein Bild! Der Heros meiner Kindheit! Ein übermächtiges Ölgemälde in
unserer Dorfkirche, die ihm geweiht war, erinnerte mich an ihn; an seine
ritterliche Erscheinung und an seinen kraftvollen Tritt gegen das Böse, gegen
die sich schmerzhaft windende Schlange am Boden. Göttlich edel war er mir damals
erschienen, als Verfechter des Guten, als Abgesandter Gottes. Doch weder das
Ethos der Ritter, noch göttliche Werte sind vor Missbrauch sicher. Auch seinen
Namen hatte man verunreinigt und pervertiert! Zunächst in Russland im Schatten
der Orthodoxie! Und dann, wohl unter dem Einfluss radikalisierter Christen aus
dem Nachbarland, auch im Rumänien der Zwischenkriegszeit.
Jene obskuren Legionen richteten sich
damals gegen Juden, Kommunisten, Andersdenkende und verbreiten Tod, Terror und
Verwüstung. Und jetzt waren sie auch hier, im liberalen und toleranten Genf.
Eine schreckliche Vorstellung. Gab es in der freien Welt keinen Ort mehr, wo man
wirklich sicher sein konnte?
Bei diesen Überlegungen fühlte ich mich
nicht mehr ganz wohl in meiner Haut. Mir wurde urplötzlich wieder bewusst, dass
ich mich exponiert in einer fremden Stadt befand; dass ich mich, von besten
Absichten geleitet, doch Menschen ausgeliefert hatte, die ich nicht einmal
richtig kannte und deren weltanschauliche Überzeugungen mir teilweise sehr
suspekt waren. Dann gedachte ich wieder der Drohungen der Sicherheitskräfte vor
meiner Ausreise, an die Einschüchterungen der Securitate und an die versuchten
Briefbombenattentate, denen andere Oppositionelle ausgesetzt waren. Die Gefahr
reiste mit und das Bewusstseim, selbst in absoluter Freiheit, doch nicht gänzlich
entscheidungsfrei zu sein.
Auf dem Weg nach Genf war ich zwar von
Freiburg aus gestartet, kam aber eigentlich aus Rottweil, wo ich damals lebte.
Rottweil an Neckar ist eine kleine, sehr alte Stadt am Neckar. Die älteste im
Ländle. Von der Anwesenheit der Römer kündigt eine Badruine. Rottweil, von den
Staufern ausgebaut, war lange Zeit eine bedeutende Stadt, eine Freie Reichsstadt, politisch der
Schweizer Eidgenossenschaft verbunden.
Der Bund mit der Schweiz aus dem Jahr
1511, der formell nie aufgelöst wurde, besteht auch heute noch. Eine Kuriosität,
hinter der sich freiheitliche Bestrebungen verbergen, die erst durch den
Einmarsch der Württemberger im Jahr 1802 ein vorläufiges Ende fanden. Wenn die
Rottweiler Narren nicht gerade auf dem Sprung sind, lebt es sich in der
schwäbischen Kleinstadt recht ruhig, vergnügt und
angenehm.
Dort logierte ich ein gutes Jahr lang
möbliert und gleichzeitig hochgradig exponiert. Denn es war die Zeit, als der
bulgarische Geheimdienst im Westen unterwegs war, um den Feinden des Sozialismus
im Exil etwa mit heimtückisch präparierten Regenschirmen zu Leibe zu rücken. Das
eingesetzte Rizinus-Gift wirkte sofort und führte einen schnellen, nur schwer
diagnostizierbaren Tod herbei.
Der rumänische Staatssicherheitsdienst,
die nicht weniger berüchtigte Geheimpolizei Securitate, hatte sich damals auf
Briefbomben spezialisiert und einige davon an den befreundeten Schriftsteller
Paul Goma in Paris adressiert. Es war damals beschlossene Sache, Goma ebenso zu
liquidieren wie den kommunismuskritischen Autor Virgil Tănase, der aus dem
skandinavischen Exil opponierte.
Ob auch ich auf der Liste stand? Wenn ja,
an welcher Stelle? Falls es bald zur UNO-Klage kam, dann gefährdete ich das
liberale Image des großen Führers Ceauşescu und die Scheinwelt seines
Systems!
Goma und Tănase haben überlebt. Andere
Stimmen des Exils wie Emil Georgescu, der beim Sender Freies Europa die viel
gehörte Sendung Rumänische Aktualität
moderierte, aber auch leidenschaftlich hetzte, war sadistisch
niedergemetzelt worden.
Und selbst Damen wie Monica Lovinescu,
deren Domäne die Literaturinterpretation und Kulturvermittlung über den Äther
war, wurde Opfer kommunistischer Kommandos; namentlich von rüden
Securitate-Agenten im Auslandseinsatz, die sich nicht scheuten, selbst auf eine
wehrlose Frau einzuschlagen, sie zu beschimpfen und zu bedrohen. Diese mit
krimineller Mission in den Westen entlassenen Killertrupps agierten nicht viel
anders als die verbrecherischen Todesschwadronen in Zentralamerika.
Die Mittel der Diktaturen, Gegner
auszuschalten, waren überall die gleichen. In Spanien und Portugal, in
Argentinien und Chile. Zufällig hatte ich Isabel Allendes Geisterhaus gelesen, die mumifizierten
Leichen aus der Atacama Wüste auf dem Bildschirm gesehen und davon gehört, dass
argentinische Opponenten lebend aus dem Flugzeug ins Meer geworfen wurden, als
es darum ging, politische Gegner zu erledigen und Spuren von Folter und Mord für
immer zu verwischen.
Eine Diktatur ist immer eine
Schreckenherrschaft. Ganz egal unter welchem weltanschaulichen Vorzeichen sie
handelt.
Der Terror hatte die Freie Welt erreicht
– und niemand tat etwas dagegen.
Da die Securitate auch mir vor meiner
Ausreise – sozusagen als die conditio sine qua non des Passierendürfens - die
Zusage abgerungen hatte, niemals im Westen politisch aktiv zu werden und
öffentlich zu agieren, sondern für immer zu schweigen, noch endgültiger als ein
Grab, musste auch ich jederzeit mit einem Attentat auf mein Leben rechnen, im
Sarg zu landen oder, was noch schlimmer war, geliebten Wesen ins Grab
nachzusehen. Und das konnte schon hier und jetzt sein. Schließlich hatte ich
geredet; endlich frei gesprochen über
das, was ich existentiell in drei Jahren Opposition erfahren
hatte.
Aber ich hatte nur berichtet, sachlich
berichtet – und ich hatte nicht
gehetzt, wie einige Moderatoren des Senders Freies Europa, wenn sie in Fahrt
gerieten.
Zu keinem Zeitpunkt hatte ich die Fakten
überzeichnet oder aus Lust an der Polemik überspitzt dargestellt. Selbst den geliebtesten Sohn des Vaterlandes, den
ich im Grunde mehr bemitleidete als verachtete, hatte ich nur als das charakterisiert,
was er in Wirklichkeit auch war: ein uneingeschränkter Gewaltherrscher und
Despot, ein Tyrann und ein Diktator; doch ich hatte nie Gefallen daran gefunden,
ihn zu verhöhnen oder zu beschimpfen, obwohl ich ihn für einen Popanz hielt, für
eine austauschbare Marionette.
Andere hatten ihn in ihrer Schelte
zentral aufs Korn genommen, oft nur
ihn, den Mittelmäßigen, und mehr und mehr auch seine ewig griesgrämige
Gattin, die angeblich nur zwei Grundschulklassen absolviert hatte und doch als
Akademikerin gelten wollte – selbst Caraion, der feine Poet, den ich sehr
schätzte, obwohl ihn die zehnjährige Haft zum bitteren Zyniker gemacht hatte.
Auch er nahm von Lausanne aus mit Vorliebe das Despotenpaar ins Visier und
fokussierte seine bissige Kritik auf den stotternden Unkultivierten, der es
bedauerte, die Zensur offiziell abgeschafft zu haben. Auch Caraion sah in den
beiden Machtbessenen den Grund aller Übel, während dieser – nach meiner
Auffassung viel breiter ausfiel und alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebens
umfasste.
Bisher hatte ich nicht polarisiert; und
ich hatte meine verbalen Attacken nicht nur auf eine Person fokussiert, sondern
auf das ganze System, überzeugt der Kraft des Faktischen zu vertrauen, die
aussagekräftiger und wirkungsreicher war als jede Polemik. Stets hatte ich das
totalitäre System im Blickfeld, das in seiner Gesamtstruktur willkürlich,
zynisch und menschenverachtend war, nicht einzelne seiner Exponenten. Deshalb
war ich in meiner politischen Aufklärung immer sachlich vorgegangen und hatte
Tatsachen angesprochen, ohne selbst zum Instrument anderer Interessen zu werden
– ohne gezielt zu stigmatisieren oder zu dämonisieren. Die Fakten wogen schon
schwer genug und führten sich oft selbst ad absurdum, was eher traurig wirkte
als grotesk. Der polemisch sarkastischen Überzeichnung bedurfte es nicht
mehr. So vorgegangen zu sein, bot
einen gewissen Trost, da ich glaubte, dass dies auch von den Geheimdienstlern so
gesehen würde, die alles andere als dumm waren und sicher alle meine Schritte
selbst aus der Ferne genau beobachteten. Einiges deutete darauf hin, dass es so
war. Doch letzte Gewissheit bestand nicht.
Wer gegen ein ideologisches System
ankämpfte, war potentiell gefährdet. Mein Rottweiler Domizil in der Heerstraße
bot keine Sicherheit. Es war einfach und ungeschützt - jedermann hätte zu jeder
Tag- und Nachtzeit mühelos eindringen können.
Die deutschen Sicherheitsorgane, vom
Verfassungsschutz bis hin zum Streifenpolizisten, waren zu keinem Zeitpunkt in
der Lage, etwas für meine persönliche Sicherheit zu tun. Als ich mich ihnen nach
ersten anonymen Drohungen anvertraute und um Schutz nachsuchte, schüttelten sie
nur verständnislos die Köpfe wie einst die Beamten des Auswärtigen Amtes in der
Botschaft in Bukarest.
Idealistisches Eintreten für
Menschenrechte in den Ostblockstaaten vom Westen aus und somit fortgesetzte
Dissidenz kamen einem Kamikaze-Flug gleich, einem selbst gewollten Harakiri-Akt
auf Zeit, der in eigener Regie betrieben wurde, wobei das potentielle Scheitern
nicht verdrängt werden konnte. An sich war Dissidenz – zumindest in der Art, wie
ich sie betrieb - ein wenig lukratives Metier, das enorme Risiken mit sich
brachte und bestenfalls ein bisschen Ehre.
Alles was ich im Bereich der politischen
Aufklärung unternahm, erfolgte auf eigene Gefahr. Das individuelle
Exponiertsein, das mir schon seit dem Beginn der oppositionellen Tätigkeit
bewusst geworden war und das sich in den Tagen des absoluten Ausgeliefertseins
im kommunistischen Gefängnis noch verstärkte, blieb präsent und verfolgte mich
wie ein böser Dämon, immer und überall - am Bahnhof, im Zug und auf der
Reise.
Kein Wunder, dass einzelne Dissidenten
irgendwann der Paranoia verfielen, ja von sich steigernden Ängsten sogar
aufgefressen wurden. Freund Felix, der Musiker, war ein markantes Beispiel
dafür. Je sensibler die Seele, desto verletzlicher ist sie. Schließlich konnten
sich die Schergen der Diktaturen, unter ihnen auch Leute, die nichts zu
verlieren hatten, gewöhnliche Kriminelle mit Mordauftrag, im Westen frei und unbeobachtet bewegen. Es war
eine unsichtbare Bedrohung, der man ausgeliefert war und vor der man sich nicht
schützen konnte.
Ehemalige Opponenten und Dissidenten
waren in den Demokratien des Westens massiv gefährdet und dem langen Arm der
proletarischen Revolution weiter ausgeliefert, solange die totalitären
Machtstrukturen im Ostblock bestanden. Und sie sind es, wenn man die jüngsten
obskuren Drohungen gegen Experten der Kommunismus-Aufarbeitungskommission ernst
nimmt, auch heute noch, siebzehn Jahre nach dem Zusammenbruch der Diktatur und
selbst nach dem EU-Beitritt Rumäniens.
Wer etwas wagt, lebt gefährlich. Das
wusste ich schon längst. Aber ich war kein Einsamer in der Wüste, der nur das
eigene Leben aufs Spiel setzte. Die Nächsten waren mit betroffen. Immer wieder
musste ich an die Menschen in meinem persönlichen Umfeld denken, an meine
biedere, konfliktscheue Familie, an die unpolitische Freundin, die ich durch
meine Aktivitäten mit gefährdete.
War die Sache es wert, soviel zu
riskieren? Schließlich tobte der Kalte Krieg nach wie vor unversöhnlich zwischen
Ost und West ohne Rücksicht auf Verluste. Das Attentat auf den polnischen Papst
Johannes Paul II, hinter welchem der sowjetische Geheimdienst vermutet wurde,
zeugte davon. Selbst der mächtigste Mann der Welt, Präsident Ronald Reagan, der
– nicht anders als der Papst nie müde wurde, die Respektierung der
Menschenrechte auch im Ostblock einzufordern – war, wie sich bald zeigte,
verwundbar. Hatte ich ihn nicht, dem Nachfolger Petri gleich, wanken und stützen
gesehen? Wie exponiert war da ein kleiner Fisch – im großen
Strudel?
Wieder einmal setzte ich, salopp
gesprochen, in letzter Instanz mein Leben aufs Spiel! Handelte ich aus Eitelkeit
– oder war es doch eine übergeordnete Notwendigkeit, die mich antrieb? Doch war
dies alles nicht eine Sache der Rumänen? Schließlich war ich doch schon am Ziel
angekommen, in der Welt maximaler Freiheit, studierte, wirkte als Literat,
ja selbst als Mitherausgeber einer bundesweit erscheinenden Kulturzeitschrift,
war weitgehend glücklich, erfüllt und erfolgreich.
„Höre endlich auf mit der Politik – du
bringst uns alle in Gefahr. Was willst du noch? Die Rumänen sollen ihre
Angelegenheiten selbst regeln“.
Solches und Ähnliches hörte ich immer
wieder aus meinem Umfeld, wo man sich bedroht fühlte und meine Haltung nicht
verstand. Nicht jeder fand Gefallen an Heldentum, nicht jeder war bereit,
höheren Werten, alles zu opfern, selbst den höchsten Wert: das Leben selbst. Was
zählten Ideale, wenn man selbst bei ihrer Umsetzung auf der Strecke blieb? Es
war nicht einfach, mich zu rechtfertigen. Was sollte ich sagen, nachdem ich
meine eigene Haut in die Freiheit gerettet hatte? Nach mir die
Sintflut?
Also blieb ich dabei und machte weiter,
ohne dass es mir immer wohl dabei war. Die Securitate arbeitete wie die Mafia –
sie zielte auf die Nächsten und erpresste alle Angehörigen im ihrem
Machtbereich. Das war eine besonders effiziente Methode. Doch was war die
Alternative zum Weitermachen? Sollte ich das höhere Ziel, das über mich hinaus
ging, preisgeben, mich feige zurückziehen, in vermeintlicher Sicherheit ein
bürgerliches Dasein führen und die sowieso immer und überall ungerechte Welt
sich selbst überlassen?
Voltaire, mein großes Vorbild, für den
die Idee der Freiheit die höchste
Idee überhaupt war, hatte hier in Genf gelebt und als Freigeist und freier
Bürger gewirkt. Vielleicht hatte er gerade an dieser Stelle hier, wo ich jetzt
saß, über die Ideale der Menschheit nachgedacht. Oder Rousseau? Der andere von
Freiheit durchdrungene Vordenker der
Französischen Revolution, der als freier Bürger, als citoien de Geneve, hier eines seiner
Schlüsselwerke veröffentlicht hatte, den Contract social, Rousseau, den ich
ebenso verehre wie seinen spöttischen Widersacher Voltaire - war er es nicht,
der die gefährliche Freiheit der
ruhigen Knechtschaft vorgezogen hatte, der in Einsamkeit lebte, aber seinen
großen Idealen treu blieb?
Verwies nicht die Bundesverfassung des
neutralen Staates, in dem ich mich gerade befand, darauf, dass nur jener
wirklich frei ist, der von seiner Freiheit Gebrauch macht und sich aktiv
für freie Willensbekundung und Wahrheitsfindung einsetzt? Reichte die lange
Tradition im Kampf für die Freiheit
als höchstem Wert, der unzählige große Geister angehören, nicht bis in die
Antike zurück, bis zu Sokrates, Epikur und den großen Denkern der
Stoa?
Große Gestalten der Weltgeschichte hatten
sich in ihr tragisches Schicksal gefügt und gehandelt, wie es ihnen ihr Gewissen
befahl und dabei alles eingesetzt, auch ihr Leben. Bevor William Wallace, von
meinen freiheitlichen Namensvetter Mel Gibson unübertrefflich in Szene gesetzt,
auf dem Schafott angekommen die nachhaltigen Worte ausrief: Freiheit! Freiheit! Freiheit! – hatte er
sein Leiden gerechtfertigt, das ein Leiden für eine Idee war, indem er es als
sinnsetzend für das tatsächlich gelebte Leben darstellte. In den Jahren der
Dissidenz fühlte ich ähnlich, auch ohne den beeindruckenden Kinostreifen gesehen
zu haben. Sollte ich nun weichen, mich zurückziehen?
Die gesamte idealistische Haltung der
letzten Jahre sprach dagegen. Also musste ich weiter machen, obwohl Zweifel
aufkamen. Vielleicht hatte eine höhere Instanz oder das Schicksal gerade mich in
die Situation versetzt, bestimmte Dinge tun zu müssen. In früheren Zeiten war es
trotz Folter und Haft gut gegangen. Weshalb sollte es jetzt anders sein? Mit
solchen Überlegungen verscheuchte ich die Mutlosigkeit und fand wieder zur
Zuversicht zurück. Die Hoffnung stirbt zuletzt, sagt man!
Als ich später erneut mit Monsieur Robert
zusammen saß, hatte ich kaum noch Mühe, aus der Weltstadt in die Alltagswelt des
grauen Sozialismus zurück zu kehren, um die Bedingungen zu rekonstruieren, die
aus kleinen Anfängen größere Ereignissen werden ließen
Leseprobe:
Es ist kaum möglich, die oft stereotyp
durchlebte tägliche Trivialität des Alltags in der Rückschau detailliert zu
rekonstruieren und zu schildern. Ein nahezu identischer, austauschbarer Tag
begann um fünf Uhr morgens im Elternhaus mit dem Aufstehen, dem kargen Frühstück
und einer halbstündigen Busfahrt in die Stadt. Um sechs Uhr setzte bereits der
Berufsalltag des Proletariers im Werk ein. Im mechanischen Atelier jener großen
Trikotwarenfabrik sollte ich meine Stunden abarbeiten, dabei behilflich sein,
kleine Reparaturtätigkeiten durchzuführen und beim Herstellen von Ersatzteilen
an Drehbänken, Fräsen und Schleifmaschinen mitwirken.
Dabei lernte ich einiges. Noch wichtiger
für mich war jedoch das Gespräch mit den Arbeitern, die permanente Kommunikation
mit den Kollegen, die allesamt brav ihre Norm zu erfüllen suchten, deren
Gedanken aber auch um alles kreisten, was Menschen bestimmt, die mit ihrem Los
nicht ganz zufrieden sind. Bei allen gab es Höhen und Tiefen. Bereits um
vierzehn Uhr passierte ich die Stechuhr und spazierte aus der etwas abgelegenen
Fabrikstadt dem schöneren und erbaulicheren Stadtzentrum zu. Der Tag war noch
jung – und Temeschburg war eine gemütliche
Stadt.
Wer sich mit seinem Schicksal abgefunden
hatte wie meine Tante, die in einem der besseren Wohnblocks unweit des
Hauptbahnhofs wohnte, konnte da beschaulich leben und den Tag genießen. Ich
hingegen wurde – wie unzählige andere junge und jung gebliebene Menschen auch –
von unüberbrückbaren Diskrepanzen bestimmt, die im sozialistischen Alltag nicht
versöhnt werden konnten.
Nach einer kleinen Stärkung in einem der
zahlreichen Schnellrestaurants, wo man den beliebten Salade de boeuf essen und
einen Kefir trinken konnte oder nach einem Aufenthalt in einer kleinen
Konditorei, wo es eine bunte Auswahl süßer sirupgetränkter Törtchen gab und
manchmal selbst Exotismen wie grüne Bananen und Apfelsinen, bewegte ich mich auf
das Gymnasium zu. Gelegentlich wurde ich unterwegs von Bekannten aufgehalten,
die Neuigkeiten zu berichten hatten. Natürliche, intensive Kommunikation war die
Regel. Jeder plauderte mit jedem. Einsame, gar vereinsamte Menschen waren mir in
Temeschburg nicht bekannt.
Nicht selten führte mein Weg über den
Domplatz an dem pompösen Dikasterialgebäude vorbei, einem Palazzo im
Renaissancestil, der ebenso in Stockholm oder in Rom hätte stehen können, ohne
dem Erlauchten darin Schande zu bereiten. Mittelpunkt des pittoresken
Domplatzes, den ich nahezu täglich durchquerte, war eine kunstvoll angefertigte
Pestsäule, die an größte Seuche der Menschheitsgeschichte erinnerte. Temeschburg
war im 17. und 18. Jahrhundert, als die verheerende Seuche in ganz Europa wütete
und Millionen dahinraffte, genau so betroffen wie Wien und
Budapest.
Der Domplatz selbst imponierte durch
seine Großzügigkeit und Symmetrie und verwies fern auf die vornehmen Gärten von
Belvedere und Schönbrunn. Diesen Platz, der mit seiner warmen und beschaulichen
Atmosphäre Erinnerungen an die gute alte k. u. k. Zeit wachrief, wo die Damen
noch mit ihren Hündchen gelangweilt herum spazierten, an die Welt von Gestern, die von Stefan Zweig
noch so innig beschrieben worden war, empfand ich als das große Gegenstück zur
Lloydzeile, die von der Oper auf der einen Seite und der mächtigen, grün
gekachelten Kathedrale auf der anderen begrenzt wurde.
Die Lloydzeile, ein zweiter Mittelpunkt
der Stadt, hatte ein anderes Gesicht und erinnerte in ihrer modernen Gestaltung
und nahezu weltmännischen Charakteristik an die Prachtmeilen bedeutender Städte
in Westeuropa. Zwischen jenen markanten Punkten rollte fast mein gesamtes
Stadtleben ab. Was am Domplatz fehlte, war ein prunkvoller Zierbrunnen, ein
Springbrunnen, der dem schönen Ort mehr Lebendigkeit verliehen hätte. Ein
springender Brunnen aber prägte das Bild der Lloydzeile.
Schon als Kleinkind stand davor und
beobachtete fasziniert aus der Zwergperspektive, wie das kristallklare Wasser
durch den weit geöffneten Mund eines steinernen Fisches aus dem Innern hervor
schoss - und wie der mächtige Wasserstrahl in der Luft zu Tröpfchen zerperlte,
in denen sich das Licht der Sonne in die Farben des Regenbogens aufspaltete.
Auch das war eine Art Urerlebnis aus dem Lauf der Elemente, wo Wasser und Luft
zu Licht und Farbe verschmolzen. Im Hintergrund der Fontäne, über alles erhaben,
die bronzene Statue der Wölfin, Romulus und Remus säugend. Das Wasser
verzauberte mich schon damals, ohne zu ahnen, dass ich als ein im Zeichen der
Fische Geborener dem Lebenselement Wasser zugeneigt sein musste. Alles war schon
damals in Fluss, fern von Heraklit. Und nichts war beständiger als der
Wechsel.
Nur war Temeschburg, obwohl am Fluss
gelegen, eigentlich keine wasserreiche Stadt: und deshalb auch keine
Brunnenstadt. Wasser, das unverzichtbare Lebenselixier des Menschen, genauso
wichtig wie die reine Luft zum atmen und wie die Freiheit des Geistes, war dort ein
knappes Gut. Der winzige artesische Brunnen, nur wenige Meter von der Pestsäule
entfernt, bot kaum Ersatz. Sein aus vierhundert Meter Tiefe stammendes Wasser,
das im Grunde ein schlecht mineralisiertes Heilwasser war, wurde von alten
Leuten trotzdem getrunken, obwohl es lauwarm war und fad schmeckte. Mit dem
Wasser kamen überriechende Gase hoch, vermutlich Schwefelwasserstoff, den
Lausbuben aus Langeweile auch Mal anzündeten. Selbst nach den beiden
Weltkriegen, in welchem Temeschburg stark umkämpft und heftig bombardiert worden
war, bot das Karre am Dom einen immer noch intakten Anblick. Mehrstöckige
Bürgerhäuser umsäumten den Platz, der nur von einem zentralen Bauwerk überragt
wurde – von der Kirche, der er den Namen verdankte: vom katholischen
Dom.
In jenes Heiligtum begab ich mich
manchmal, wenn mir die Außenluft zu heiß wurde und wenn ich, den Blick zum Kreuz
und den Schutzheiligen erhoben, etwas tiefer über das Leben nachdenken wollte -
nicht ohne den feigen Versuch zu unternehmen, etwas göttlichen Beistand
anzufordern.
Andersdenkende lebten gefährlich. Und
einen Deus ex Machina hatten sie
immer und überall nötig. Wie die Rosen am Wegrand vor der Kirche so wirkte auch
das Kreuz tief in die Zeit hinein. Es führte in alchemistischer Verdichtung vom
Erdelement hinauf in höhere Sphären, in Bereiche der Freiheit, die der Geist nur ahnt und
nach dem die geplagte Seele schmachtet.
Am Spätnachmittag strebte ich dann auf
die Lenau-Schule zu, wo gegen fünf Uhr der Abendschulunterricht begann. Er
bedeutete keine Herausforderung und glich mehr einem vergnüglichen Intermezzo
mit unterschiedlichen Themen als einer systematischen Ausbildung. Gegen neun Uhr
war Schluss. Anschließend ging ich zum nahen Busbahnhof und pendelte zurück ins
elterliche Haus nach Sackelhausen oder ich zog mich in meine in unmittelbarer
Nähe gelegene Spelunca zurück, die ich für einige Zeit als urbanes Refugium
angemietet hatte.
Wenn ich heimfuhr, erreichte ich gegen
zehn Uhr den heimatlichen Hof. Zum Schlafen, Säumen und Träumen verblieben mir
noch knappe fünf Stunden. Diesen exzessiven Rhythmus einer Daueraktivität rund
um die Uhr hielt ich ein ganzes Jahr durch, bevor er von höherer Warte aus
abgewürgt wurde.
Manchmal machte ich im Rosarium Station,
in jenem beschaulichen Rosengarten mitten in der Stadt, wo alte Menschen die
letzten Sonnenstrahlen genossen und wo junge Verliebte eng umschlungen ihren
Gefühlen freien Lauf ließen.
Der Rosengarten war der rechte Ort, um
Einkehr zu halten, um die Stille zu genießen, um durchzuatmen und dem Gang der
Gedanken folgen; auch um zu lesen oder um nur allein zu sein und um
selbstvergessen vor sich hin sinnend manche kontemplative Stunde zu
verbringen.
Das Rosarium, ein gartenähnlicher Park
mit unzähligen Rosen, das man auch aus anderen Rosenstädten kennt, aus Eltville
am Rhein, aus Weltbädern wie Baden-Baden, Bad Kissingen oder auch in Bad
Mergentheim, war bereits in der Vorkriegszeit angelegt worden - mit mehr als
tausend Rosenarten. Etwas von der früheren Pracht war immer noch da und
erinnerte an rosigere Zeiten.
Eigentlich war ich unter Rosen
aufgewachsen, wenn auch nicht auf Rosen gebettet. Wir hatten viele daheim im
Vorgarten, wilde Feldrosen ebenso wie edelste Hybride aus England. Sie waren
immer schon da und wurden gehegt und gepflegt - purpurne und samtrote,
mehrfarbige und weiße Rosen, auch Strauchrosen und Heckenrosen, die im
Konkurrenzkampf mit den ebenfalls sich hinauf schlingenden Reben, bis zum Dach
empor kletterten und einen Teil des Hauses in ihrem grünroten Teppich
verhüllten. Die Rosen waren ein natürlicher Teil unseres Lebens und wurden, wie
jeder zur Selbstverständlichkeit gewordene Wert, gerade von uns jungen Menschen
nicht angemessen gewürdigt. Nie hatte ich daheim über Rosen nachgedacht und
übersah sie, wie ich vieles andere von Wert auch übersehen
hatte.
Rosen sollten nicht nur wahrgenommen
werden. Es gilt vielmehr, sie zu entdecken. Sie in ihrer Wesenheit im
Bewusstsein aufzunehmen, in ihrer ästhetischen Vollkommenheit mit ihrem Duft,
der ihr Wesen mit bestimmt. Erst im Rosengarten fand ich die Zeit und Muße,
diese besonderen Pflanzen zu betrachten, ihr Bild zu erfassen und ihr Sinnbild.
Die Rosen vor meinen Augen waren schön; sie verströmten ein mildes Parfüm – und
sie waren zart und zerbrechlich wie alle Rosen.
Rosen blühten auf und welkten schnell
dahin. Am gleichen Strauch sprossen sie und starben. Sie verglühten im Strahl
der Sonne. Wie wir. Wie wir am Leben zerbrachen, ohne es voll ausgekostet zu
haben.
Sie sind das Sinnbild unseres Lebens! Welcher
Dichter hatte sie nicht besungen? Welcher Denker hatte nicht über sie
nachgedacht? Welche Kultur hatte sich der Rose verschlossen? Könige hatten sich
ihrer erfreut, und Kaiser! Zu allen Zeiten wurden üppige Rosengärten angelegt.
Rosen prägten das Bild der Städte und den Hof auf dem Land. Wie die Reben
standen sie für Kultur. Auch im Banat.
Ob es auch Orte gab, wo keine Rosen
blühten? Orte, wo ihr Duft noch unbekannt war und der Reiz ihrer milden
Feinheit? Lieder kündeten von ihr auch als Symbol, selbst als Symbol der
Heimat.
Gelegentlich hatte ich Vater dabei
beobachtet, wie er, der Gärtner aus Leidenschaft, mit den zarten Pflanzen
umging, mit den Schönheiten, die auch Dornen hatten. Dann merkte ich, mit wie
viel Liebe er diese Blumen umhegte, die ihm mehr zu bedeuten schienen als manche
Menschen. Er kultivierte seinen Rosengarten wie Candide, nachdem er seine
existentiellen Erfahrungen gemacht hatte, in stiller Kontemplation wie ein Mönch
seinen Kräutergarten. War dies die Quintessenz seiner Existenz, nach den
Erfahrungen der fünfjährigen Deportation als deutscher Volkszugehöriger? Auch
der meinen? Oder der Existenz überhaupt?
Was bleibt übrig, wenn alle Erfahrungen
gemacht, alle Leiden durchlitten und alle materiellen Werte verloren sind? Der
liebevolle Umgang mit dem Schönen – die reine Anschauung? Doch war das Leben in
der Pflanze wirklich besser aufgehoben als auf der höheren Entwicklungsstufe, im
Menschen? Hatte es sich in die falsche Richtung entwickelt? Von Reflexionen
verleitet, schlenderte ich durch den Rosenpark, durch ein Meer von duftenden
Rosen; schneeweiße, rosenrote, gelbe und gesteifte Rosen, ganze Rosensträucher
wie bei Dornröschen boten sich dar, verschwenderisch wie ein Luxus der Natur –
erst hier, wo ich die Muße fand, mich betrachtend in die Natur zu vertiefen,
ohne von den Wirren der wilden Außenwelt abgelenkt zu sein, entdeckte ich die
wahre Rose: die Idee der Rose, von der schon Platon sprach – und hinter ihr die
Emanation aus der Idee: die Symbolkraft der Rose.
War es ein Zufall, dass sich die mich
immer schon faszinierenden vier Elemente, die ich nie aus dem Bewusstsein
verlieren wollte, gerade in der Rose harmonisch vereinten, im alchemistisch
mystischen Prozess wie ihn die Begründer des Rosenkreuzertums
empfanden?
Neben dem Kreuz wurde die Rose zu einem
vielschichtigen Sinnbild, das mich durch die Jahre der Opposition und durch das
Leben begleitete, ohne dass ich damals etwas von den naturphilosophischen
Schauungen jener Mystiker geahnt hätte. Als Repräsentant der aufgeklärten Zeit
und der Naturwissenschaft scheute ich damals jede dunkle Mystik, jede Form der
Geheimnistuerei und Geheimbündlerei, selbst das Freimaurertum, weil es noch
geheimer war als frei.
Im Rosarium erkannte ich vielmehr den
schönen Ort, der angenehm und zugleich verschwiegen war. Sub rosa dictum – das galt hier an
diesem stillen Ort, wo der eigene Genius regierte und wo manches Gespräch
geführt wurde, nur bis zu einem gewissen Grad. Wir waren zwar immer noch
belauscht – mit Ohr und Blick. Doch unsere Gespräche, die vielleicht konspirativ
anmuteten, waren im Grunde weltoffen und konkret sozialkritisch ausgerichtet.
Die Pracht des Angenehmen und Nützlichen signalisierte auch Weltoffenheit. Die
Rose stand, über die Verschwiegenheit, Keuschheit und Reinheit hinaus, für Licht
und Leben, für Optimismus und Aufbruch. Sie war deshalb auch das Symbol einer
neuen Zeit; des wahren Sozialismus,
der eigentlichen Humanität, von welcher auch die Freimaurer
träumten.
Die Assoziationen, die Rosen in meinem
Gedächtnis wachriefen, je tiefer ich ihrer Symbolik auf den Grund gehen wollte,
waren vielfältig und chaotisch wie der Wandel der Sinnbildlichkeit in der Zeit
und reichten zurück bis in die Welt frühkindlicher Wahrnehmung, bis in die
Bereiche des Unbewussten. Düfte waren ebenso tief verwurzelt wie Farben, viel
tiefer als Begriffe.
Als Kind hatte ich einst ein
blutrünstiges Spektakel am Bildschirm verfolgt, ein Szenario von erhabener
Schönheit und nackter Brutalität in der Serie: Der Krieg der Rosen. Dargestellt wurde
dort in bester Theatralik ein authentischer Machtkampf im alten England, ein
langwieriger und vernichtender Krieg zwischen den Häusern York und Lancaster im
Namen und unter dem Emblem der Roten Rose und der Weißen Rose - mit einer
Handlung, von der mir bald nur noch das Bild rollender Köpfe im Gedächtnis
haften blieb und ein unendlicher Strom von Blut, dessen rote Farbe ich so
deutlich sah wie die Leuchtkraft der Rosen, obwohl das damalige Medium noch
keine Farben wiedergeben konnte.
Und dann…waren da nicht noch ganz andere
Köpfe, die rollen mussten? Im fernen Berlin? Weil der Führer es befohlen hatte?
Köpfe von Friedfertigen, von reinen Pazifisten, die gegen Krieg und Vernichtung
aufstanden und für eine Idee: für die Idee der Freiheit? Und für die Vorstellung von einem freien
Deutschland?
War da nicht eine ganz andere Weiße Rose?
Ein Symbol des Kampfes gegen übelste Tyrannis! Ein Symbol des Widerstands! Des
Aufbegehrens des Gewissens, des aufrechten Bürgers gegen maßloses Unrecht! Ein
Sinnbild des Widerstands gegen den mit Abstand größten Verbrecher der
Menschheitsgeschichte, gegen Hitler, und gegen das System des
Nationalsozialismus in Deutschland?
Was wusste ich von den Geschwistern
Scholl aus Ulm? Von Hans und Sophie? Von ihren geistigen Mistreitern Christoph
Probst, Willi Graf und Alexander Schmorell. Von ihren zahlreichen Unterstützern
aus München?
Es waren junge Leute in meinen Alter, die
aufgestanden waren und vom Gewissen getrieben friedlich gegen ihr totalitäres
Regime opponiert hatten, nachdem sie dessen verbrecherische Politik und
Kriegsführung teilweise aus eigenen Anschauungen an der Front kennen gelernt
hatten. Der verbrecherische Vernichtungskrieg im Osten hatte sie veranlasst,
andere Mitbürger aufzuklären und zum Widerstand gegen Hitler und seine
Handlanger aufzurufen.
Ihr Schlüsselwort war Freiheit! Sie war ihr moralischer
Antrieb und der Motor ihres Gewissens!
Nachdenklich saß ich auf einer Bank und
blickte konsterniert in die Zeit…Noch wusste nicht viel über den Widerstand
gegen Hitler. Nur das wenige, was ich den Nachrichtenmagazinen entnommen hatte.
Noch spärlicher waren meine Informationen über die anderen Attentatsversuche auf
den zynisch diabolischen Diktator, von Elsner bis zu Claus von Stauffenberg; vom
Kreisauer Kreis bis hin zum Heros Rommel und der zwielichtigen Gestalt von
Admiral Canaris.
Doch war mir bewusst, dass unzählige
andere anständige Deutsche mit aufgestanden waren, um auf ihre Weise früher oder
später zu handeln; und dass sie als Widerstandskämpfer gegen den
Nationalsozialismus und gegen die Hitler-Diktatur im Dritten Reich verfolgt,
abgeurteilt und ermordet worden waren. Das genügte mir, um an eigene Aktionen zu
denken. Nur war ich noch weit davon entfernt, die Tragweite der Handlungen des
Widerstands zu erfassen. Damals sah ich die deutsche Widerstandsbewegung im Chor
der vielen Freiheitskämpfer aller Zeiten, ohne den besonderen Charakter der
Taten zu erkennen. Die Reife der Durchdringung und ein ausdifferenziertes,
vertieftes Geschichtsbild fehlten mir noch. Doch die Vorbildfunktion der
Widerstandshelden stand fest. Deshalb wollte ich nicht zurück stehen.
Auch wir lebten in einer Diktatur, deren
selbstgefälliges Walten so nicht hingenommen werden musste. Die Freiheit war ein Wert, der einem nicht
so einfach zufiel wie eine reife Frucht vom Baum. Sie war fern wie ein Edelweiß
an steiler Felswand und versteckt hinter spitzen Dornen. Sie zu erlangen
erforderte Leidensfähigkeit und Mut – Aktion und Passion. Hatte ich diese
Eigenschaften?
Sachte näherte ich mich einem
Rosenstrauch aus Purpur und sah dem Wachstum zu. Es ist erhaben zu sehen, wie
etwas wächst, wie erste zarte Blätter ausgeformt werden, nach dem Plan, den die
Natur vorgegeben hat; wie sich Knospen bilden und aufbrechen; wie sich die Blüte
öffnet und ihr Parfüm verströmt, ihren natürlichen Duft, den kein noch so
meisterhafter Parfümeur nachahmen kann. Wachstum hat etwas Erhebendes, in der
Pflanze wie im höheren Leben.
Wehmütig bückte mich leicht hinab und sog
den Duft einer gerade sich öffnenden Knospe ein, lange und tief wie etwas, was
man aufnimmt, um es nie wieder preiszugeben. Die Süße drang in mich ein wie
Ambrosia, wie eine Speise der Götter, die Geistiges nährt. Das war etwas, was
noch intakt war in einer kaputten Welt.
Ja, die Rose war immer schon etwas ganz
Besonderes…Wer allein ist, ist auch im Geheimnis, sagt Benn. Hier war ich
allein. An einem Locus amoenus, an
einem lieblichen Ort, unter Rosen, um mich der Genius loci. Allein mit meinen Gedanken,
umgeben von dem karminroten Samt einer Heckenrose mit unzähligen Blüten in allen
Entwicklungsstufen. Ich pflückte eine davon, die gerade dabei war, zu vergehen,
und zerrieb ihre tiefroten Blütenblätter in den Fingern. Sie verfärbten sich
blutig und erinnerten an anderes Blut, das geflossen war, vom Kreuz herab und
vielfach unter dem Zeichen des Kreuzes bis hin zum
Hakenkreuz.
Wo stand ich? An der Seite der
Kreuzritter? Oder im Lager der Rosenkreuzer? Oder allein? Die einen kämpften für
die Idee des Christentums gegen Juden und Moslems und gegen die eigenen
Glaubensbrüder, um eine bestimmte Vorstellung vom Christentum durchzusetzen; mit
Mitteln, die in der Zeit lagen und damals legitim schienen, mit dem Schwert wie
schon Karl der Große.
Die anderen kämpften an einer anderen
Front, im Verborgenen gegen den starren Geist ihrer Zeit, im Geheimen, den
stillen Kampf des Verstandes, dessen Taten nicht gleich offensichtlich wurden.
Viele Denker, die ich bewunderte, wurden zu ihnen gerechnet. Francis Bacon,
Giordano Bruno, René Descartes, Johannes Kepler und Baruch Spinoza waren nur
einige illustre Namen von hunderten, die sich unter das Kreuz und die Rose
scharten, um in diesen Zeichen mit der Kraft des Geistes ihr humanistisches Werk
zu vollenden. Es waren allesamt frühe Aufklärer, Reformatoren ihrer Zeit, die
die gespaltene Welt am Vorabend des Dreißigjährigen Krieges zum Positiven hin
verändern wollten. Es waren freigeistige, antiklerikale Denker, die der
institutionalisierten Kirche und dem Papsttum ebenso kritisch begegneten wie der
Reformator Martin Luther.
Antiklerikalismus unterm Kreuz? Das war
kein Widerspruch! Auch mein Protest hatte sich unter das Kreuz geflüchtet. Das
fühlte auch ich. Die Wege unterm Kreuz waren so vielfältig wie das Ringen um die
Ideale des Kreuzes. Was assoziierten die Rosenkreuzer mit dem goldenen Kreuz und
der roten Rose? Das Kreuz symbolisiert den Menschen, der aufgerufen ist, sich in
seiner Wesenheit zu überprüfen und so zu hinterfragen, dass er sich von der
niederen, unedlen Stufe zu einem aufrechten, höher stehenden edlen Menschen
entwickelt. Spätere Freimauer wie Haydn, Mozart, Lessing und universale Geister
wie Goethe bis hin zu Thomas Mann haben diesen Weg zum Humanum hin in dieser
Tradition gesehen. Die Rose hingegen symbolisiert die Seelenessenz, bei der die
vier Elemente Feuer, Erde, Wasser und Luft im Einklang stehen.
Ich sah die Dinge nüchterner in
intuitiver Ablehnung des Esoterischen und Okkulten und erkannte in den beiden
Symbolen lediglich sehr alte Sinnbilder der Menschheit, die ihre Geschichte
durch die Jahrtausende bestimmt hatten.
In Lenaus Lyrik hatte ich Spuren einer
Rosenkreuzerrezeption gefunden, die vermutlich auf den Umgang mit dem Theosophen
Franz von Baader zurückzuführen waren und gedanklich zu Rudolf Steiner
hinführten, zu Steiner der über das Kreuz
und die Rose geschrieben und eine
Philosophie der Freiheit verfasst
hatte. Mir genügte jedoch seinerzeit die allgemein verständliche philosophische
Botschaft der beiden Symbole, die mir persönlich in meiner gesellschaftlichen
Auseinandersetzung eine wertvolle Orientierung boten.
Für mich avancierte das Kreuz zum
Kampfsymbol im weitesten Sinne, ohne es vollständig vom Religiösen zu lösen,
während die Rose den Rückzug in das eigentliche Menschsein, in Schönheit, Liebe
und Humanität, darstellte. Freudig
kämpfen und entsagen – ein Motto, das die angebetete Geliebte dem liebend
leidenden Lenau vorgegeben hatte. Also war auch ich bereit, meinen Kampf zu
kämpfen: für die Kunst und die Welt dahinter. Das Rosarium wurde zum Rückzugsort
und gleichzeitig zum Ort vielfältiger Gespräche, zum Ort der Muße, der Muse und
des Dialogs – und die Rose blieb mein Symbol der
Hoffnung.
Nur kurze Zeit nach jener Maskerade ohne
Masken, die immerhin die Unzufriedenheit anderer Arbeiter öffentlich gemacht
hatte, trat ich den mehr notwendigen als verdienten Urlaub an und unternahm
zusammen mit meinem guten Jugendfreund Erwin Mayer eine fast tausend Kilometer
weite Reise vom westlichsten Punkt Rumäniens zum östlichsten hin, an die Küste
des Schwarzen Meeres.
Als Folge des verheerenden Erdbebens, das
auch in den Medien des Westens viel Resonanz erzeugt hatte, hatten zahlreiche
ausländische Urlauber ihre Schwarzmeerreisen storniert und somit Kapazitäten für
die nicht minder erholungsbedürftige inländische Bevölkerung frei gemacht. Wir
erfuhren irgendwie von den Leerständen, griffen zu und buchten spontan einen
Zwei-Wochen-Aufenthalt im Hotel mit Vollpension; im Hinterkopf den leisen
Gedanken, von der Küste aus nach Bulgarien zu reisen, um von dort möglicherweise
sogar im Rahmen eines Tagesausflugs in die Türkei überzusetzen und so dem
Ostblock für immer den Rücken zu kehren. Ausbruchphantasien dieser Art gingen
uns ständig durch den Kopf, inspiriert von manch abenteuerlicher Flucht, die
Menschen aus unserem Umfeld glücklich zur
Freiheit verholfen hatte.
Der Küstenaufenthalt wurde nach
anfänglichen Akklimatisationsschwierigkeiten, die zum sozialistischen Alltag
gehören, zu einem großen Natur- und Landschaftserlebnis. Allein schon die Fahrt
ans Meer war beeindruckend. Nachdem wir in Temeschburg in einen Schnellzug
gestiegen waren, reisten wir vergnügt und für die Zeit eines Tages auch
sorgenfrei vom kontinentalen Banat in die mediterrane Dobrudscha.
Die Fahrt ging zunächst durch das Banater
Bergland, das wir als unser klassisches Erholungsgebiet recht gut kannten, durch
milde Hügel mit geschmeidigen Flüssen und tiefen Tälern bis zur Donau; vorbei an
jener Stelle, wo die von Türken besiedelte Insel Ada Kaleh in den Fluten
versunken war, um ein riesiges Staudamm-Projekt zu ermöglichen. Das eiserne Tor, ein Wasserkraftwerk der
Sonderklasse, das zusammen mit den Jugoslawen Titos an der gemeinsamen Grenze im
Strom errichtet worden war, um anderen Strom zu erzeugen, galt als
Prestigeprojekt und zeugte davon, das die Diskriminierung Titos im
kommunistischen Lager partiell überwunden werden konnte. Dann ging es für
Stunden mehr langweilig als anregend durch die fruchtbaren, uns wenig vertrauten
Humusebenen der flachen Walachei.
Gelegentlich verließ ich das Abteil und
lief ein paar Schritte im Zugkorridor auf und ab, den Blick in die unbekannte
Gegend gerichtet, die wechselvoll vor mir vorüber zog, ohne dass ich all das
Neue hätte aufnehmen können.
Während der Zug durch die südliche
Walachei raste und ich apathisch ins Grüne blickte, trat ein schmächtig dürres
Männlein an mich heran. Er war wohl in Craiova zugestiegen. Während er sich eine
Zigarette anzündete, stimmte er einen Singsang an. Ganz so nebenbei und ohne
mich überhaupt anzusehen, murmelte er mir eine kleine Geschichte ins Ohr und
schilderte in einem merkwürdigen Tonfall, weshalb es ihn an die Küste
verschlage.
„Ich habe eine Gespielin in Constanta…Sie
rief aaan…Und sie sagte - Komm doch, komm doch, komm doch! Und da hab’ ihr
geantwortet: namban, namban, namban - ich habe kein Geld, hab kein Geld, hab
kein Geld! Laassss du das Geeeld!“... hatte sie dann gesagt, „und komm!“ - Und ich
fahre!“
Mit dieser witzigen Episode drang er in
meine Einsamkeit ein und störte meine Besinnung, ohne dass es ihm weiter
aufgefallen wäre. Unmittelbare Kommunikation mit jedermann war aus seiner Sicht
etwas ganz Natürliches, auch wenn diese nicht verbal erwidert wurde. Es redete
aus ihm – und mir blieb nur das Staunen. Direkt reagieren konnte ich auf den
Vortrag nicht mehr, weil der Bursche sich genauso plötzlich wieder abgewandt
hatte, wie er gekommen war.
Fern erinnerte der stereotype Duktus an
die Litanei in Latein, die mir noch aus den Frühmessen meiner Ministrantenzeit
nachklang, und an das Rosenkranzgebet der Großmütter, das immer bei den
Beerdigungen auf dem Land zu hören war, im monotonen Auf und Ab der seltsamen
Stimmen. Das Ganze erinnerte an ein Theater, wo nur ein Protagonist auftritt,
seinen Monolog hersagt und dann hinter dem Vorhang verschwindet.
War denn alles nur noch Theater? In der
Fabrik und im Alltag? Wer war die Puppe? Und wer zog die Fäden? Und konnten wir
nicht wie die Stricke zerreißen wie Gulliver in Liliput und frei
werden?
Als mein Reisebegleiter, der heute
weitgehend unpolitisch lebt und fern der Öffentlichkeit sein Leben in Freiheit auf seine Weise genießt, nach
mir suchte, trug ich ihm hoch amüsiert das Gehörte vor und wiederholte den
wunderlichen Monolog später noch so oft, dass der seltsame Ton erhalten blieb.
Das war unmittelbar erlebte Volksdichtung, Poesie, deren Schöpfer für alle
Zeiten anonym bleiben sollte. Wir lachten auch köstlich darüber, weil uns diese
Philosophie des unbekümmert in den Tag Lebens imponierte. Von der Hand in den
Mund – so lebten unsere Zigeuner. Und so entzogen sie sich der Gängelung des
Staates.
Seit der gemeinsamen Kindergartenzeit
verstanden wir uns prächtig. Wir hatten viel Freizeit miteinander verbracht,
beim Spiel, Sport und auf Ausflügen, wir hatten über manches nachgedacht, aber
auch oft und gern gelacht wie damals in Wolfsberg im Kino, als wir zwei
kichernde Mädchen mit einem Shut up
zur Räson gerufen hatten, um dann die Replik zu hören: „Wir sprechen nicht
Ungarisch“.
Die Namenskoinzidenz mit meinem
oppositionellen Weggefährten Erwin Ludwig aus Nero war rein zufällig. Beide
kannten sich aus den Klubbegegnungen, verloren sich aber später aus den
Augen.
Im Zug sprachen wir fast nur über
Banalitäten und rätselten schon darüber, was noch an unkalkulierbaren
Überraschungen auf uns zukommen könnte. Solch ein Urlaub am Meer war als Ausflug
in eine freiere Welt im Grunde doch ein kleines Abenteuer. Es war schon
Nachmittag, als wir Bukarest ankamen. Dort hielt der Zug etwas länger. Fahrgäste
stiegen aus und zu. Dann ging es weiter.
Bevor wir gegen Abend das Gebiet der
Dobrudscha erreichten, wo sich, in kleinen Siedlungen verstreut, vor längerer
Zeit ebenfalls deutsche Siedler niedergelassen hatten, durchquerten wir jenen
unseligen Landstrich, das Baragan, das heute wieder in sein Wüstendasein
zurückgefallen ist.
Hierhin waren allein aus unserem Dorf
mehr als zweihundert Menschen zwangsdeportiert worden. Zehn Jahre ihres Lebens
hatte sie in dieser Wüste verbringen müssen, abgeschottet von dem natürlichen
Umfeld und als Strafe für die Zugehörigkeit zum Deutschen Volk. Mein Nachbar, der Dichter, hatte hier
sogar das Licht der Welt erblickt. Und ein anderer Dichter aus einem Nachbarort
ebenso.
Noch keine dreißig Jahre waren vergangen,
seitdem man unsere Landsleute aus ihren Häusern getrieben hatte, um sie, in
Viehwaggons zu verfrachten, durchs Land zu karren und sie dann auszusetzen wie
Freiwild, auf dem freiem Feld, mitten im Ödland, dem Regen, Sturm und Schnee
schutzlos ausgeliefert.
Fast fünfzigtausend Menschen wurden im
Baragan ihrem Schicksal überlassen. Nicht nur Deutsche. Auch das war Geschichte.
Geschichte, aus der es kein Entrinnen gab. Einiges war darüber berichtet worden
und klang merkwürdig makaber nach: Braila, Galatz, Baragan – alles Namen, die an
Sachalin erinnerten, an den Archipel Gulag und an finster frostiges Sibirien;
und sie waren gleichbedeutend mit Aussetzung, Verbannung und intendierter
Vernichtung.
Solschenizyn hat das, was die
unmenschliche Seite der sowjetischen Geschichte betraf, in seinen Werken
beschrieben und für die Nachwelt festgehalten. Auch über die Baragan-
Deportationen liegen Dokumentationen und Zeitzeugenberichte vor, die in der
Geschichtsforschung noch nicht adäquat berücksichtigt wurden wie das Werk Und über uns der blaue endlose Himmel,
eine Dokumentation von Wilhelm Weber, die an Menschen und ihre Schicksale
erinnert und die jene traurige Realität der fünfjährigen Deportationszeit offen
legt.
Doch was tangierte mich damals die
wissenschaftliche Aufarbeitung der Materie. Entschärfte nicht gerade das
abstrakte Abhandeln der Thematik die Brisanz jener Zeit des blinden Stalinismus?
Mich interessierten primär Einzelschicksale. Die Menschen hinter den Zahlen und
Fakten interessierten mich, ihr exponiertes Los als Opfer, ihr Überleben in
Strohhütten bei Eiseskälte, ihr Leiden und ihr Unglück, das aus einer
Ungerechtigkeit erwachsen und wie eine metaphysische Vergeltung über sie
gekommen war. Wie viele Menschen waren in diese Steppe verfrachtet worden wie
Vieh?
Und dies nach den Schrecknissen der
Vernichtungstransporte in die Konzentrationslager! Wie viele Kinder wurden in
diese unwirtliche Einöde hineingeboren? Wie viele starben hier, noch bevor ihr
Leben begonnen hatte?
Und wie viele von ihnen mussten - mit
einem Baumzweig in den Händen, da es nichts anderes gab, vor einer Kerze kniend
- mitten im Schnee traurige Weihnachten feiern? Unter gestirntem Himmel, weil
auch die Kirche fehlte? Solche Bilder klagten mehr an als abstrakte,
völkerrechtliche Klageschriften!
Schließlich durften auch noch die Alten
und die schwachen Menschen nicht vergessen werden, von denen viele bereits nach
der Ankunft - medizinisch unversorgt - im Elend verstarben. Mein eingetrübter
Blick schweifte hinaus in die Steppe, wo Verwandte ruhten, Landsleute, Menschen.
Und manchmal glaubte ich eines von den
verwitterten Holzkreuze zu erkennen, die unbetreut am Wegrand zurückblieben
waren wie die längst vermoderten Körper der Verstorbenen. Es geht dem Menschen
wie dem Vieh, so wie es stirbt, so stirbt er auch. Brahms Akkorde drängten sich
auf, kräftig und ernst – und die Salomonische Welt von Vorgestern.
Der Tod war unter uns – mitten im Leben.
Und alles schien der Vergänglichkeit preisgegeben, Lust und Leid: Vanitas
vanitatum vanitas - seltsame Kreuze sah ich fallen und keine
Rosen!
Weshalb und wofür? Das fragte ich mich,
ohne zu bemerken, wie Wehmut heraufzog. Weshalb die Rache an Menschen, die in
einem bestimmten Landstrich wohnten? Weshalb die Vergeltung an Kindern?
Wo war die zivilisierte Welt, als das
Lineal angesetzt und der Federstrich gezogen wurde – von Leuten, die das
internationale Recht verhöhnten. Stalin hatte es in Potsdam so gehalten und Churchill und Truman ausgestochen.
Seine Handlanger und Vasallen hielten an der Methode noch 1951 fest und setzten
sie zynisch um. Hatte man nicht wieder die falschen Schweine zur Schlachtbank
geführt? Wo waren die Vereinten Nationen und das Völkerrecht? An diesem Punkt
hatten die Demokratien des Westens versagt; und dies, sechs Jahre nach dem
Kriegsende. Ein schaler Geschmack blieb zurück.
Die rückwärtsgewandte Betrachtung der
Geschichte und die Ungerechtigkeiten der Vergangenheit erinnerten mich an die
unbefriedigende Gegenwart, die aus Fehlern resultierte. Vieles war immer noch
so, wie es nicht sein sollte. Die Botschaft der Geschichte war verhallt.
Es war eine sonderbare Fahrt; eine Reise,
die mir symptomatisch schien für das ganze Leben. Wer zum Meer wollte, um etwas
von der Unendlichkeit seiner Freiheit
zu erfahren, wer zum Angenehmen wollte und zum Schönen, der musste erst durch
Dornen hindurch und durch die Schrecknisse der
Vergangenheit.
Die Vegetation wechselte. Allmählich
setzte sich die Gewissheit fest, dass wir näher an das Donaudelta heran kamen,
in jene urwüchsige Landschaft aus Süßwasser und Schilf, wo die Donau drei große
Arme bildet, um sich dann, nach ein paar Windungen mehr, in den ewigen Ozean zu
ergießen. Selbst die Luft veränderte sich. Über allem lag der frische Duft von
Meer und verbunden mit der Andeutung einer salzigen Brise, die mir sanft in die
Nase stieg und die man schmecken konnte. Es roch grün, wie es die Seebären
ausdrücken. Die frische Luft lockerte auf, der Körper entkrampfte und mit ihm
die erschütterte Seele. Ein paar Kilometer weiter war ein großer See
auszumachen, ein Brackensee, wo sich das Salzwasser des Meeres und das süße
Grundwasser mischten. Und auf einer Landzunge dort lag Pensinsula, ein
Ausrottungslager, ein KZ des Kommunismus. Ein guter Bekannter hatte dort einige
Jahre seines Lebens verbringen müssen, zusehend, wie zwanzigtausend politische
Häftlinge gequält und nicht selten umgebracht werden. Und dies – nur eine
Steinwurf von dem Urlaubparadies Costinesti entfernt, wo sich die Jugend der
Welt traf und wo der sozialistische Staat sein liebstes Gesicht zeigte – den
schönen Schein. Himmel und Hölle lagen dicht
aneinander.
Schließlich erreichten wir die
Küstenstadt Constanta, das ehemalige Tomis der Griechen und der Römer, wohin
Augustus, wohl aus einer Laune heraus, Ovid verbannt hatte. Zweitausend Jahre
waren inzwischen ins Land gegangen – und viel Wasser war den Danubius, den Ovid
Hister nannte, hinab geflossen. Und
die Willkür von damals glich der Willkür von heute aufs
Haar.
Hatte Ovid die Kunst des Liebens so
plastisch, so vortrefflich geschildert, dass die Sitte des gestrengen Roms
darunter litt? Oder war auch er bereits aus politischen Gründen in die Wüste
geschickt und verbannt worden – wie unzählige berühmte und weniger berühmte
Dichter nach ihm?
Mir war gesagt worden, der viel
gepriesene Poeta laureatus seiner Zeit würde hier irgendwo in Bronze gegossen
auf dem Sockel stehen. Nur gab es keine Gelegenheit, die Statue aufzufinden und
dem Verfasser der ars amatoria unsere
späte Reverenz zu erweisen. Was wussten wir Jünglinge schon von der Kunst des
Liebens und Verführens, von den Metamorphosen des Edlen zum Unedlen und
von der Wandlung des nach Erkenntnis Strebenden zum Liebenden. Don Giovanni war
uns noch ferner als Faust und Ovidius Naso.
Es ging anschlussbedingt gleich weiter
über die Kleinstadt Eforie nach Venus, in eine jener kleinen Satellitenstädte,
die als Bettenburg für die zahlreichen in- und ausländischen Touristen aus dem
Boden gestampft worden waren.
Das Hotel war schnell gefunden. Nur das
Belegen des Zimmers machte Schwierigkeiten. Wieder schien uns der sozialistische
Alltag eingeholt zu haben - wie insgeheim befürchtet. Misswirtschaft,
Missmanagement auch hier in der modernen Freizeitwelt. Die stornierten Zimmer
der Ausländer waren mehrfach verkauft worden. Jetzt stand die dreifache Menge an
Gästen draußen wartend vor der Tür. Wer sollte, wer konnte in dem engen Hotel
untergebracht werden?
Das waren schwierige Fragen
sozialistischer Logistik, auf welche die Marketingexperten vor Ort keine
Antworten wussten. Der Computer war zwar schon erfunden, aber noch nicht
bestellt. Die Devisen dafür mussten erst verdient, trotz des
Bebens.
Nach welchen Kriterien war eine Auswahl
zu treffen? Sollte das Parteibuch entscheiden, der Universalschlüssel für alle
Eingangspforten der sozialistischen Gesellschaftsordnung? Oder sonstige Merkmale
wie Nationalität, Nasenlänge, blaue Augen – oder das altbewährte, gern genommene
und auch stets erwartete Bakschisch? Der Löwe im Ausweis? Drüben in Bulgarien
wurde die Lewa gern genommen, hier der Leu, dessen Kaufkraft etwas von der
Bissigkeit eines Papiertigers hatte.
Wir beide, zwei Burschen aus dem Banat,
offensichtlich Nichtrumänen, genossen keine besondere Priorität, denn Genossen
waren wir bestimmt nicht. Aber dafür waren wir jung und kräftig – und
vermittelten durchaus den Eindruck, dass wir einige Nächte wohlbehalten unter
freiem Himmel im Sand übernachten konnten. Also ließ man uns warten, ohne dass
irgendwie Notiz von uns genommen worden wäre. Wir waren
Luft.
Als nach einigen Stunden vergeblichen
Wartens immer noch keine Fortschritte erkennbar waren, mischte ich mich unter
die Herumstehenden und begann damit, mir etwas von dem Ärger von der Seele zu
reden. Dabei prangerte ich die bestehenden Missverhältnisse ungeniert mit lauter
Stimme an, gut hörbar auch für jene, die begierig nach Mißtönen im offenen
Konzertsaal lauschten.
Das ging eine Weile gut, bis ich von
einem misstrauisch dreinblickenden Zeitgenossen unterbrochen wurde, der sich
unauffällig aus dem Haufen gelöst hatte und diskret an mich heran getreten war.
Das graue Männlein war natürlich von jener Zunft, der ich hier am Meer
eigentlich hatte entfliehen wollen und mit der ich im Urlaub nicht wirklich
gerechnet hatte. So kann man sich täuschen. Es gab sie auch im Urlaub, sie waren
einfach überall, diese grauen Leute. Doch sein dezenter und doch als
Einschüchterung gedachter Hinweis, er sei von der Geheimpolizei und hier im
internationalen Ambiente für Fragen die Staatssicherheit zuständig, beeindruckte
mich nicht wirklich. Schließlich hatte ich schon einiges auf dem Kerbholz und
bereits etwas Erfahrung im Umgang mit dem bösen Wolf, der lieber die Menschen
erschreckte, als konsequent durchzugreifen. Also legte ich – geschützt von der
zustimmenden Menge - noch einmal nach, drehte verbal auf und zog alle Register
rhetorischer Polemik, so, dass dabei das entlarvende Schüsselwort Securitate gut hörbar für die meisten
Mitbetroffenen immer wieder in die lauten Exkurse eintröpfelte. Der Spürhund
reagierte irritiert, war überfordert und kapitulierte schließlich mit der
Konzession, er werde sich unverzüglich unserer Sache annehmen und das Problem
beheben.
Bald darauf tat sich tatsächlich etwas.
Bewegung kam auf. Der Direktor des gebuchten Hotels wurde herbei zitiert. Es gab
Geflüster, schiefe musternde Blicke in unsere Richtung und zustimmendes Nicken.
Es sah gut aus. Also schliefen wir doch noch in einem Bett und nicht am
Sandstrand?
So schien es zunächst. Doch der Schein
trog erneut. Mehr mürrisch als nett wurden wir in die Lobby gebeten und sollten
dort weiter abwarten. Nachdem sich die omnipotente Gestalt des allmächtigen
Dienstes entfernt hatte, machte sich allerdings wieder eine alte Nostalgie
breit, wie man sie nur noch auf indischen Bahnhöfen erleben kann. Die Zeit stand
plötzlich wieder still – nunc stans, für Ewigkeiten, so fühlte ich es. Der Dämon
des Nichtstuns kam herab und lähmte jede Aktivität. Die Dämmerung brach herein.
Und wir saßen immer noch in der Lounge in weichen Sesseln, die Koffer neben uns,
und warteten…warteten…und warteten - wie auf Godot.
Warten ist eine viel eingeübte Tugend im
Sozialismus. Doch wenn der Zuckerspiegel fällt und das Testosteron ansteigt,
kann selbst das Warten gefährlich werden. Missmut kann auf. Sollte ich wieder
randalieren? Wieder den alten Bekannten aus dem grauen Verein auf den Plan
rufen, damit es vorwärts ging?
Da schoss mir eine andere Strategie ein,
eine weniger ethische, eine Strategie der Impertinenz als Antidot auf das uns
applizierte Schleichgift der Ignoranz. Unauffällig auffällig öffnete ich so
nebenbei den prall gefüllten Reisekoffer, wühlte in meinen Sachen herum,
breitete die bunten Textilien demonstrativ auf dem Boden aus, griff nach dem
weißblau gestreiften Pyjama und fing gelassen an, mich zu entkleiden. Unerwartet
stand der Direktor wieder neben mir und gaffte mich verblüfft an:„Was machst du
denn da?“ wollte er wissen.
„Die Nach bricht herein“, antwortete ich
lakonisch lässig, „und nach der langen Bahnfahrt von Temeschburg hierher bin ich
müde geworden und fühle das Bedürfnis, mich endlich auszuruhen, zur Not auch
hier vor allen Leuten, im Fauteuil! Also kleide im mich um. Wo darf ich die
Zähne putzen und den Rest der Abendtoilette
erledigen?“
Der Direktor hatte verstanden. Nervös
geworden, lief er hektisch davon, gestikulierte wild durch die Luft verständigte
sich mit einigen Hotelangestellten. Dann ging alles recht schnell. Nach wenigen
Minuten wurde uns ein Zimmer zugewiesen; ein schönes, helles und sauberes Zimmer
im Erdgeschoß mit direktem Ausgang zum Meer. Der Urlaub konnte beginnen. Es war
schon spät geworden. Übermüdet sanken wir auf unsere Schlafstätten und schliefen
bald darauf ein.
Von Ferne hörte man das sanfte Rauschen
der Brandung. Am nächsten Morgen, nachdem endlich alle organisatorischen Abläufe
geregelt waren, fand ich erstmals Zeit, an die Küste zu gehen.
Zum ersten Mal erlebte ich es wirklich –
das Meer! Elementar und mächtig - beeindruckend wie eine Urgewalt, wie
symphonische Musik und wie das Hochgebirge. Jetzt hatte ich alle beisammen. Und
der Ärger war verraucht.
Die anderen Badegäste zurücklassend,
schritt ich auf einer steinernen Pier hinaus bis zu einem solitären Punkt, wo
die Wogen auf schwere Felsen schlugen und schäumend zerschellten. Als ich so auf
dem Felsen stand, nur von den tosenden Fluten umgeben, allein wie einst Walter
auf dem Stein, und fast so einsam wie jener in Acedia versunkene Mönch am Meer,
den Caspar David Friedrich in sein Bild baute; als ich zum ersten Mal in die
blauen Weiten hinaus blickte wie Kolumbus, versunken in die Grenzenlosigkeit der
Ferne, fühlte ich mich erstmals in die eigene erbärmliche Endlichkeit
zurückgeworfen - wie beim Anblick des Firmaments und der Sterne. Dieser Locus
amoenus, der gleichzeitig ein Locus terribilis wilder Einsamkeit war, ergriff
mich so heftig wie kein anderes Naturerlebnis vorher. Die bestimmenden Elemente
waren um mich: der Fels, die Flut, der Wind und die glühende Abendsonne, die
fast schon versunken war.
Hatte nicht auch Ovid einst hier
gestanden? Gerade hier, an dieser Stelle vielleicht – und auf das Meer hinaus
geblickt, in Schmerz und Trauer versunken, in Gedanken an den Tiberstrand, an
Rom und in Erwartung des rettenden Schiffes aus der Heimat? Hatte er nicht in
Verbannung ausgeharrt - wie andere große Geister seiner Zeit, wie Aristoteles,
wie Seneca, und vereinsamt abgewartet, zehn volle Jahre lang, in der Hoffnung,
doch noch begnadet und erlöst zu werden von einem Herrscher, der gottgleich
regierte wie ein Diktator?
Hatte er nicht bis zuletzt gehofft, mit
den hier verfassten Zeugnissen des Leidens das Ohr des Augustus doch noch zu
erreichen und mit den Tristia gar
sein Herz? Das Herz eines Tyrannen, um es zu erweichen und Gnade, Rettung und
Heimkehr zu finden?
Hier starb Ovid, ein Dichter der
Weltliteratur, in Melancholie und Resignation versunken, weil ein
selbstherrlicher Herrscher es so wollte. War nicht auch er damals schon der
Willkür eines Diktators unterworfen – wie wir, zweitausend Jahre später, heute?
Ovid, der der Heimat Beraubte, der Zwangsexilierte! Hier fand er wohl die Zeit,
lange über seine Metamorphosen zu
meditieren und über das ungerechte Los der Welt, das auch vor großen Geistern
nicht Halt macht, über den Wandel der Werte und die Vergänglichkeit aller Dinge?
Seine Epistulae ex Ponto künden davon, von seinen Leiden,
seiner Melancholie und seiner Verzweiflung. Krank an Leib und Seele stand er
hier und weinte, hinaus aufs Meer starrend. Und er endete auch hier am rauen
Meer nach zehnjähriger Verbannung in letzter Einsamkeit, dem Blick der fremden
Geten ausgesetzt, die ihn ehrten,
ihn aber nicht verstanden? Vanitas vanitatum
vanitas!
Weiter durfte ich mich nicht in diese
elegischen Reflexionen hineinsteigern, ohne auch noch der Melancholie zu
verfallen, zu der ich als astrologischer Fisch ja disponiert war. Hier, am
Wasser, in meinem Element, war ich meinem Wesen nahe - das fühlte
ich.
Doch waren wir denn nicht hierher
gereist, um das Leben zu genießen und seine angenehmen Seiten auszukosten; um
die Sorgen für Tage zu vergessen und einfach oberflächlich in den Tag hinein zu
leben? So war es – wir waren jung und noch voller Lebensfreude! Nicht tristes
Moll war angesagt, sondern vitalstes Dur.
Die erste Reise ans Meer wurde dann
tatsächlich zu einer sehr positiven Etappe, zu einer Zeit vielfacher
menschlicher Begegnungen und zu einer Zeit früher Freundschaften. Am Strand
lernte ich bald ein rumänisches Mädchen kennen, Camelia, etwas jünger als ich,
mit dem ich bald darauf bei Eis und Limonade durch Bukarest schlendern und
unerhebliche Gespräche führen sollte, wehmütige Arien aus La Traviata im
Ohr.
Jetzt spazierten wir durch den Sand,
leicht verliebt, auch ohne Verdi-Klänge Was wusste wir vom Los der Kameliendame,
vom Tragischen in der Kunst, von Ovids Elegien? Und was wusste sie von meinen
jungen Leiden?
Der Wind strich uns durchs Haar und die
Spuren am Strand verrieselten in der Flut. Musste man Spuren hinterlassen im
Leben? Oder wurde alles von einem Schleier verdeckt, Glanz und Ruhm und
Eitelkeit?
Am Abend geleitete ich sie zu ihrem
Hotel; sittlich und brav, in platonischer Distanz, einem Gentleman gleich, der
weder genießt, noch darüber spricht.
Tage später traf ich einen echten
Seebären in der Haut eines netten Kapitäns zur See aus Nordostdeutschland, einem
jovialen, freundlichen Bürger der zweiten Deutschen Republik, der mich, den
Fisch, ermutigte tief zu tauchen und dabei beherzt die Augen zu öffnen, damit
ich die neue Welt der Tiefe auch erkennen konnte. Hans Hass hatte ein Buch
darüber geschrieben, das ich schon verschlungen hatte – der einzige Hass, dem
ich etwas abgewinnen konnte. Jetzt zog ich Seewölfe aus der Tiefe. Kamen wir
nicht selbst daher? Und wären wir nicht besser dort geblieben? Hoch hinaus und
tief hinunter – das entsprach der Existenz, die ich auszuloten
gedachte.
Bald darauf begegnete mir ein Unternehmer
aus Braunschweig, eine enthusiastische Kämpfernatur, die schon einiges im Leben
gewagt hatte und auch erfolgreich war. Er war ein Deutschstämmiger aus
Bessarabien, dem noch kurz vor dem Zusammenbruch die Flucht ins Reich geglückt
war, mühsam im Wagentreck wie viele andere Flüchtlinge auch. Die Geschichte
meines Großvaters war auch seine Geschichte. Und das Dritte Reich bestimmte und
beide. Aus der Geschichte gibt es kein Entrinnen, das fühlte ich damals ganz
genau. Wir diskutierten über Gott und Vaterland, über historische Gerechtigkeit
und Freiheit, über Heimat und
Vaterland.
Da er selbst das Los der
Auslandsdeutschen kannte und meinen Argumenten emotional wie rational gut folgen
konnte, ermutigte er mich, meinen Weg weiter zu beschreiten und konsequent
Flagge zu zeigen wie unlängst als Kreuzritter. Die Episode hatte ihm gefallen.
Auch hoffte er, mich bald als Gast in
Freiheit begrüßen zu können. Leider sah ich ihn nie wieder - wie ich viele
andere sympathische Menschen nie wieder sah, die mir einst in frohen Stunden
begegnet waren.
Die Tage am Meer waren freudige Momente
zwischenmenschlicher Begegnungen, Augenblicke intensivster Kommunikation. Zum
ersten Mal lernte ich eine größere Anzahl Ostdeutscher kennen; eine ganze Gruppe
von Bürgern aus der Deutschen Demokratischen Republik, also aus einem Staat, den
wir eher mit Argwohn und Skepsis betrachteten. Die jungen Leute im Alter von
Zwanzig bis Dreißig stammten weitgehend aus dem Raum Halle an der Saale. Sie
hatten nahezu die gesamten Ersparnisse eines Jahres investiert, um sich diesen,
aus ihrer Sicht schon südlich-exotischen Aufenthalt an der Schwarzmeerküste zu
leisten. Es waren allesamt kumpelhafte Charaktere. Gärtner wie Wolfgang aus
Helmstedt und Krankenschwestern wie Iris, die im verbrüderten, klimatisch
wärmeren sozialistischen Ausland einige südlichere Tage verleben wollten oder
lebenslustige, unkomplizierte Fabrikarbeiter wie Klaus, die zum Teil in einem
Halleschen Waggonwerk schufteten und dort täglich zusehen mussten wie alles, was
sie erwirtschaften, in die Sowjetunion weiter geleitet wurde. Einige von ihnen
hatten das Gefühl, Handlanger zu sein, instrumentalisierte Vasallen der
Sowjetunion, die, statt des eigenen, den fernen Bruderstaat aufbauten – als
ewige Reparationsleistung und aus ideologischer Solidarität heraus. Ihre Arbeit
im Betrieb kam ihnen sinnlos vor, und sie wirkten apathisch und demotiviert.
Trotzdem feierten sie oft und gern.
Bereits nach wenigen Tagen war ihr nicht
gerade üppiges Taschengeld soweit aufgezehrt, dass sie ihre kaum erst
erstandenen westlichen Jeans, Shirts und Armbanduhren wieder verhökern mussten,
um sich einige der beliebten Mixdrinks an der Bar zu leisten. Ein
Karl-Marx-Schein war selbst im sozialistischen Bruderstaat nur ein flüchtiges
Phänomen. Und die deutsch-deutsche Teilung war auch dort eine triste
Realität.
Besonders schäbig erschien mir der
Aspekt, dass den Brüdern aus dem anderen sozialistischen Staat der Zutritt zu
Diskotheken verwehrt wurde, nur weil sie nicht mit harter Währung bezahlen
konnten. Die Stigmatisierung der Ostdeutschen überall auf der Welt, die bis zur
Wende anhielt, blieb auch an der Schwarzmeerküste Rumäniens erhalten. Dessen
ungeachtet verstanden wir uns prächtig, saßen oft zusammen und sprachen über
Gott und die Welt. Auch über Politik und über Zukunft. Doch im Gegensatz zu uns
Banater Schwaben und Siebenbürger Sachsen hatten die meisten dieser netten
Menschen, die ich heute noch angenehm im Gedächtnis verbuche, leider politisch
resigniert. Sie hofften kaum noch auf die im Westen Deutschlands immer noch
angestrebte Wiedervereinigung des geteilten Staates und hatten den Glauben an
bessere Zeiten fast schon aufgegeben. Der später aufgenommene Briefkontakt zu
einzelnen von ihnen hielt praktisch bis zu meiner Ausreise an, um dann später in
der einseitig betriebenen deutsch-deutschen Nichtkommunikation endgültig zu
versiegen.
Als ich während eines Abendessens bei
gegrilltem Fisch und Weinen aus Murfatlar, zu dem wir alle Freude aus Sachsen
und Sachsen-Anhalt geladen hatten, als abschließende Provokation noch das
Deutschlandlied anstimmte und angeheitert fromm, frech und frei gleich alle
Strophen herunter sang, so wie sie Fallersleben auf Helgoland gedichtet hatte,
fiel es den Ostdeutschen sichtbar schwer, mit
einzustimmen:
„Aber das ist doch verboten!“ flüsterte
mir eine junge Dame ins Ohr. Nur Volker und zwei, drei weitere Burschen stimmten
in den Ton der einstigen Kaiserhymne ein – mit den Worten Johannes Robert
Bechers: „Aus Ruinen erhoben und der Zukunft zugewandt …“ bis zur
Schlusssentenz: einig deutsches
Vaterland!“ Doch auch das sollte man nicht mehr
singen.
Das Ringen um den Wert der Freiheit zieht sich wie ein roter Faden
durch die gesamte Menschheitsgeschichte. Die Freiheit, das Leitelement der Humanität,
ist der Wert schlechthin, aus dem alles hervorgeht, die Conditio sine qua non
der menschlichen Existenz – ohne sie ist wahres Menschsein unmöglich. Das ist
eine selbst gemachte Existenzerfahrung. Die Sehnsucht nach Freiheit ist der Motor, der alles
antreibt. Um diese Botschaft weiter zu geben, schrieb ich dieses Buch.
Als Präsident Traian Basescu am 18.
Dezember, am Vorabend des EU-Beitritts seines Landes, vor das rumänische
Parlament trat, um, gestützt auf einen wissenschaftlichen Kommissionsbericht,
den mehr als vierzig Jahre herrschenden Kommunismus im Land als illegitim und kriminell zu verurteilen, war dieses
Buch bereits geschrieben. Es ist eines von vielen Zeugnissen, die den
Mitgliedern der Präsidentenkommission zur Analyse der kommunistischen Diktatur
in Rumänien die Möglichkeit boten, ihren Auftrag zu erfüllen; eine jener
Biographien individueller Opposition, die in ihrer Gesamtheit auf das Phänomen
der Dissidenz verweisen, die es als solches in Rumänien nach der Meinung der
Experten überhaupt nicht gegeben hat.
In der wohl repressivsten aller
Diktaturen des Ostblocks, wo man noch in den 80ger Jahren während der Zeit von Glasnost und Perestroika für das Anbringen einer Nieder mit Ceauşescu-Losung gleich mit
fünf, sechs, ja selbst fünfzehn Jahre Haft rechnen musste, war weder eine
systematisch koordinierte Opposition,
noch eine liberale, gesellschaftsverändernde Dissidenz möglich, eben weil
dem totalitären Staat Ceauşescus in dem Geheimdienst Securitate ein unüberbietbar repressives
Instrument zur Verfügung stand. Möglich waren oft nur verwegene Einzelaktionen,
die von mutigen Menschen ausgetragen wurden, von Menschen, die sich, oft um den
Preis ihres Lebens, für Ideale einsetzten und für Werte, die heute nur in
wenigen Teilen der Welt zu Selbstverständlichkeit gehören: für Freiheit und für Menschenwürde.
Bevor ich mich durchrang, dieses Buch
auszuarbeiten, habe ich mir in den letzten fünfundzwanzig Jahren immer wieder
die Frage gestellt, ob ich das seit langen angedachte Projekt überhaupt
realisieren soll. War mein Testimonium noch notwendig und wichtig? War es
sinnvoll, all das, was ich an sozialpolitischen Entwicklungen erlebt hatte, noch
einmal wachzurufen?
War es mir selbst gegenüber
gerechtfertigt, noch einmal substanzielle Lebensenergie aufzubringen und einige
Lebensjahre ausschließlich in ein Projekt zu investieren, das zudem noch
finanziert werden musste wie eine Unternehmung?
Weshalb sollte ich mich selbst wieder
quälen, alle verschütteten und verdrängten Schrecknisse der Vergangenheit
mehrfach wachrufen und - über die bloße Niederschrift hinaus - bei jeder
Überarbeitung der Szenen und Kapitel all die alptraumweckenden Prozesse wie
Verhör, Folter und Haft erneut erleben, sisyphusartig wie im Bolero als unselige
Wiederkunft des Gleichen? Nur um ein Buch über totalitäre Phänomene zu
schreiben, wo diese doch bereits an anderer Stelle vielfach ausführlich
dargestellt und analysiert wurden? Ein weiteres Buch über eine kommunistische
Diktatur, die bereits Teil der Geschichte ist, und in einer Zeit, wo das Ende
des Weltkommunismus fast überall schon zu greifen scheint? Die Zweifel blieben
bis zuletzt. Und selbst als die tausend Seiten, aus welchen andere vielleicht
einen Rougon-Macquart-Zyklus in zehn Bänden gemacht hätten, festgehalten waren,
und, den nicht üppigen Schaffensbedingungen zum Trotz, ein Lebenswerk entstanden
war, wollten sie nicht weichen.
Kurz vor der Edition der beiden Bände, in
die das umfangreiche Werk dann doch aufgeteilt werden musste, fiel mir während
des fortgesetzten Quellenstudiums das Zeugnis eines Landsmanns aus Sackelhausen
auf, in welchem er die tragische Zeit seiner Existenz und seine Opferrolle
zusammengefasst hatte. „1945 wurde ich im Kessel von Budapest von Russen
gefangen genommen. Eine halbe Stunde später hatte ich kein Gewehr mehr, keine
Uhr und keine Stiefel. Dann ging es für zehn Jahre in die russische
Gefangenschaft. In der Zeit habe ich viel gesehen, erlitten und erlebt. Würde
ich das alles aufschreiben, wäre es ein ganzes Buch.“ Er beschränkte sich auf
die Andeutung der Möglichkeit und schrieb nichts auf – wie neunundneunzig
Prozent der Opfer in ähnlicher Situation. Sie nahmen ihr Schicksal hin und schwiegen, der eigene Vater nicht
ausgenommen; sie schützten durch ihr Schweigen die Täter – und sie nahmen dabei
in Kauf, dass sich all das Unselige und
Unfassbare, da nicht bewältigt, wiederholt.
In diesem Punkt wollte ich dagegen halten
– als Zeitzeuge und als Augenzeuge, der Entwicklungen und Prozesse erlebt hatte,
die zum Teil singulär waren und deshalb schon aus historischen Gründen
festgehalten werden mussten wie die Gründung und Niederschlagung der ersten
größeren freien Gewerkschaft in Osteuropa.
Darüber hinaus sprachen noch viele andere
Gründe und Fakten für die Niederschrift des Zeugnisses, für ein positives
Dagegenhalten, für ein entschiedenes Pro - nicht zuletzt die jüngsten
makropolitischen Entwicklungen in der freien Welt, wo die Ethik der Nationen,
das für alle Staaten verbindliche Völkerrecht, mehr und mehr in die Defensive
gedrängt wird! Aber auch die nur dem aufmerksamen Ostbeobachter auffallende
Erkenntnis, dass im schon niedergerungen geglaubten, einstigen Reich des Bösen die Stalin-Statuen
wieder aus der Mottenkiste geholt und auf die Podeste russischer Städte gestellt
werden. Ein Menschheitsverbrecher der Sonderklasse wird wieder einmal
retuschiert und als historische Persönlichkeit verklärt – wie im gleichen
Atemzug damit eine anderswo als illegitim und kriminell verurteilte Ideologie
des Klassenkampfes eindeutig rehabilitiert wird.
Waren die großen Verbrechen, die
scheinbar präventiv in Interesse des Vaterlandes begangen wurden, doch nicht so
schlimm? Große Individuen, aber auch reine Machtmenschen in entsprechender
Position und mit Macht ausgestattet, können das Rad der Geschichte
beschleunigen. Und sie können auch das gleiche Rad zurückdrehen und den Status
quo ante wieder herstellen. Kommt das bald auf uns
zu?
Das Gespenst lebt noch und ist
quicklebendig wie die schon tot geglaubte Securitate. Solange auf unserer Erde
ein Großteil der Menschen in Armut und Elend verharren müssen, wird das Gespenst
des Kommunismus weiter umgehen; und mit ihm wird die Forderung: Proletarier aller Länder vereinigt euch
uns allen erhalten bleiben.
Während im Westen die Erinnerungen an
das, was der diktatorische Kommunismus in Osteuropa war, bereits verblasst,
müssen ganze Kontinente nach wie vor in totalitären Verhältnissen und unter
autoritären Systemen leben - in Diktaturen, die, von starken
Führerpersönlichkeiten durchgesetzt, jederzeit überall wieder möglich werden
können, selbst in hochkultivierten Nationen, in Völkern von Dichtern und
Denkern, wenn das Bewusstsein der Bürger dies zulässt. Freiheitliche Völker und
Staaten stützen heute aus Gründen der Staatsraison und von realpragmatischen
Überlegungen ausgehend menschenverachtende Diktaturen in Afrika und Asien, statt
prinzipiell an den wankelmütig erscheinenden, jungen Demokratien
festzuhalten.
Makropolitische Fehlentwicklungen
beginnen oft mit Fehleinschätzungen im Kleinen, weil Prinzipien leichtfertig
aufgegeben und wie unnützer Ballast von Bord geworfen werden. Schließlich konnte
auch ich mehr als fünfundzwanzig Jahre hindurch staunend selbst beobachten, wie
historische Wahrheiten, die ich konkret miterlebt hatte, vergessen und ignoriert
wurden; wie Tatsachen, die meine Existenz mitprägten, ganz oder partiell
entstellt und somit verfälscht wurden, selbst in der sonst so gründlichen
Wissenschaft. Und ich durfte mit
verfolgen wie manches zwischen Dichtung und Wahrheit angesiedelte politische
Thema in belletristischen Fiktionen sogar auf den Kopf gestellt und ad absurdum
geführt wurde. Doch Ignoranz und Vermengung von Wahrheit und Fiktion sind
Irrwege, Holzweg, der in die Sackgasse führen, wenn nicht gar ins Nichts.
Jeder Wertezerfall, und wir erleben heute
einen dramatischer Zerfall von Wertstrukturen, hat auch sozialpolitische
Auswirkungen. Gerade deshalb muss der Philosoph in Erscheinung treten und dort
ansetzen, wo Dichter wie schon seit Platons Zeiten mehr oder weniger bewusst
lügen, indem er aufklärt und widerspricht, eben weil er nicht selbstverliebt
dichtet, sondern verantwortungsvoll denkt, indem er nicht die Freiheit der
Dichtung beschneidet, sondern ihre Grenze aufzeigt, damit nicht der Mythos zur
Wahrheit wird.
Nach meinem Weltverständnis ist es eine
Bürgerpflicht und eine Pflicht vor der Welt, dort aufzuklären und zu
widersprechen, wo Täuschung, Heuchelei und bewusste Verfälschung den Blick auf
die Wahrheit verstellen, auf die historische, politische und existentielle
Wahrheit; vor allem dann, wenn die Mittel gegeben sind, den Kraftakt zu
schultern. Das eigene Gewissen, das ein Vierteljahrhundert nicht schweigen
wollte, drängte mich schließlich, eine durch Skepsis, Lethargie und Schwäche vor
mir her geschobene Aufgabe zu Ende zu bringen, einem Gelübde gleich, das man
sich selbst auferlegt hat – doch nicht die Eitelkeit, selbst noch einmal im
Rampenlicht stehen zu wollen. Dazu hatte ich damals, 1981, als ich als Sprecher
der Freien Gewerkschaft rumänischer Werktätiger SLOMR von Genf aus die Klage der
Vereinten Nationen gegen das Regime von Diktator Ceauşescu mit auf den Weg
brachte, ausreichend Gelegenheit, allerdings ohne davon Gebrauch zu machen.
Schrieb ich dieses Buch auch aus
solipsistischen Gründen, um über einen reinigenden Prozess, über eine Katharsis
die Vergangenheit endgültig ad acta zu legen und um letztendlich psychisch zur
Ruhe zu kommen, weil eine bewusste Verdrängung dies nicht schafft? Oder aus der
Sicht des moralisierenden Besserwissers? Keinesfalls! Die Symphonie der Freiheit und ihr zweiter
Band Gegen den Strom entsprechen
weder der Emanzipationsbestrebung eines prometheischen Sisyphus, der irgendwann
von Überdruss und Ekel bedrängt den Fels, den er den Berg hinan schiebt, von
sich stößt, um, der Last des Schicksals entledigt, endlich befreit aufzuatmen;
noch verkörpert das die Sicht des Weisen, der sich im Besitz der Wahrheit weiß.
Das Dokumentieren realsozialistischer Wirklichkeiten entspringt primär
pflichtethischen Überlegungen, die bescheiden darauf abzielen, von Hass und
Hetze ausgelöste totalitäre Bedingungen künftig verhindern zu wollen. Das Wehret den Anfängen mahnender Seher
motivierte auch mich.
Meine Symphonie der Freiheit wurde von
moralischen Impulsen ausgelöst und wird von historischen Notwendigkeiten
geleitet und bestimmt, die über das individuelle Geschick, über die Existenz des
Berichtenden, hinausgehen. Sie waren konzeptionsprägend und
formbestimmend.
Als sich vor zwei Jahren – mitten in
einer existentiellen Krise – plötzlich die Chance bot, das lange hinausgezögerte
Projekt in Angriff zu nehmen, nutzte ich die Gunst des Augenblicks, von dem ich
nicht wissen konnte, ob er wiederkehrt, und brachte mein Testimonium zu Papier,
aufgewühlt und eilig und nicht gleich im Einklang mit meinem
ästhetisch-literarischen Anspruch. Ein Lebenswerk braucht Zeit, Muse und Einkehr
– alle Faktoren, die mir nicht zur Verfügung standen. Doch die Notwendigkeit,
Fakten darzustellen, wog schwerer.
Bestärkt von Freunden, die immer wieder
zur Aufnahme der Dokumentation gedrängt hatten, hämmerte ich mein Zeugnis in den
Computer, wohl wissend, dass solche Phasen rar sind in Leben und günstigere
Schaffensbedingungen wohl nie mehr auftreten werden. Die trügerische Hoffnung
darauf, die politisch-historische Wissenschaft werde ihre Hausaufgaben erledigen
und die Dissidenzthematik in Rumänien aufarbeiten, falsche Bescheidenheit und
die Selbstachtung, die es mir untersagte, am Portal der Publikumsverlage
antichambrieren zu müssen, waren verantwortlich dafür, dass mein Zusammenklang
der Ideen in Worten früher realisiert werden
konnte.
Der ersten Textfassung, die, gemessen am
Endprodukt, nur ein Entwurf war, folgten sieben Überarbeitungen mit Ausweitungen
und Differenzierungen, wobei deutlich wurde, dass Prioritäten gesetzt und nicht
alle Themen ausführlich und vertieft dargestellt werden konnten.
Erfreulicherweise fand die frühe Fassung des Textes bereits in Frühling 2006 die
wohlwollende Anerkennung der Experten, namentlich von Professor Stefan Sienerth
und seinen Wissenschaftskollegen vom Institut für südosteuropäische Kultur und
Geschichte, IKGS, eine Institution, die das Projekt schließlich über die
Gewährung eines Druckkostenszuschusses auch materiell gefördert hat. Für beide
Formen der Unterstützung, ohne die eine rasche Umsetzung des Projektes kaum
hätte möglich sein können, bin ich außerordentlich dankbar. Ebenso danke ich für
die begeisterte Akklamation meiner Testleser aus zwei Generationen, die mich auf
ihre Weise ermutigten, das Werk an die Öffentlichkeit zu
bringen.
Mit der Niederschrift meines
Erlebnisberichts, der keine vollständige Lebensbeschreibung sein will und kann,
sondern nur ein zweckdienlicher Extrakt daraus, ein Auszug, der weitgehend das
wiedergibt, was von öffentlichem Interesse ist, melde ich mich als Zeitzeuge zurück, als ein Mitgestalter
politischer Umbruchprozesse, der sich fragend der Vergangenheit stellt.
Was geschah damals unter bestimmten
Bedingungen in Temeschburg, in Bukarest? Und weshalb geschah es gerade so? Wie
war es wirklich? Was ist Wahrheit, und was ist Mythos? Vielleicht wirken meine
Aussagen wie der Bericht eines Überraschungszeugen im Gericht, der unerwartet
aus der Versenkung auftaucht, der dem Prozessverlauf eine neue Wendung gibt und
dessen Faktendarstellungen dazu führen, dass die wahren Schuldigen für ihre
Taten zur Rechenschaft gezogen und verurteilt werden; dessen Zeugnis aber
zumindest ausreicht, um das, wozu er Position beziehen kann, in einem neuen
Licht erscheinen zu lassen, um veränderte Perspektiven oder einige neue Aspekte
hinzuzufügen, damit die über die Neubewertung die Gerechtigkeit ihrem Lauf nimmt
und lange noch nicht abgeschlossene Vergangenheitsbewältigung und der Versöhnung
möglich werden.
Viele Kernaussagen von Zeugen der
Geschehnisse objektivieren historische Entwicklungen. Die Aufarbeitung einer
schwierigen Vergangenheit ist nur dann möglich, wenn ihre Abläufe authentisch
rekonstruiert, dokumentiert und im Dialog der sozialen Schichten oder der
involvierten Völker untereinander erörtert
werden.
Wie es einer staatbürgerlichen Pflicht
entspricht, eine Straftat anzuzeigen, von der man erfährt, entschied auch ich
mich – über das Gewissen hinausgehend und aus einer Ethik der Pflicht heraus -
nicht weiter zu schweigen wie der eigene Vater, der nichts von den fünf Jahren
seiner Deportation nach Kriwoj Rog preisgab, sondern über bestimmte Erlebnisse
so wahrhaftig und vollständig wie möglich zu berichten. Andere
politisch-geistige Vorbilder waren mir dabei vorausgegangen.
Solschenizyn hatte über den siebten Kreis
der Hölle berichtet und über das Inferno selbst, über die Strafkolonien des
Gulag und das große Völkergefängnis Sowjetunion. Paul Goma, einer der wenigen
kommunismuskritischen Schriftsteller Rumäniens, schrieb über Gherla und andere
rumänische Gefängnisse. Als Temeschburger und Banater Schwabe hatte ich andere
Dinge erlebt, aus anderer Sicht, Phänomene, die nicht zu verschweigen waren. Und
als glücklich Entsprungener schuldete ich dies den Opfern, denen keine Stimme
gegeben war, zu reden.
Das Schweigen des Philosophen hätte in
meinem Fall nur ein Decken der Täter bewirkt. Wo es das Gewissen der Welt nach
historischer Wahrheit verlangt, ist Silber wichtiger als Gold. Denn zum falschen
Zeitpunkt schweigen bedeutet Billigung der Schandtaten. Wo die starre
Verweigerung bestimmt, sind destruktiven Legendenbildungen und Mythisierungen
weiterhin Tür und Tor geöffnet.
Die vielen Straftaten, ja Verbrechen, von
denen ich auf meinem Weg in die Freiheit erfuhr, dürfen nicht ungesühnt
der Anonymität verfallen, weil sie, einmal durch die Nichtahndung belohnt,
wiederkehren und das gleiche Unheil anrichten wie vorher. Solschenizyn sah die
Dinge so, Sacharow, Havel, die polnischen Dissidenten um Michnik und Kuron, Paul
Goma viele Andersdenkende und Menschenrechtler aus der DDR und nicht zuletzt
auch ich selbst. So lange die Oppositionsprozesse, hinter welchen sich
Menschschicksale verbergen, nicht dokumentiert, vielfach gespeichert und
verbreite waren, konnte ich nicht ruhig schlafen. Die verschwiegene Untat von
gestern ermöglicht das Konzentrationslager von
morgen.
Die in der Symphonie der Freiheit und in Gegen den Strom geschilderten Abläufe
und Phänomene sind keine Kopfgeburten, keine Kreationen eines phantasiebegabten
Dichterhirns, der surreale Welten schildert, weil er mit der realexistierenden
nicht klarkommt. Sie entstammen nicht der Perspektive eines Voyeurs, der von
sicherer und saturierter Warte aus über Zeitungen, Zeitschriften, über Radio und
Fernsehen und heute auch über neue Medien und das Internet Sachen aus der Ferne beobachtet und
bestimmte Phänomene, die er nur vom Hörensagen kennt, thematisiert. Die von mir
präsentierte Erlebniswelt entstammt der Sicht des Handelnden, der ein Teil des
Geschehens war und dieses aktiv beeinflusst hat – und der, im Gegensatz zu
vielen, die Ähnliches und viel Schlimmeres erlitten hatten, über die geistig
sprachlichen Möglichkeiten verfügt, wenigstens etwas von den menschenunwürdigen
Schrecknissen der Jetztzeit festzuhalten.
Die Symphonie der Freiheit ist das Werk
eines langjährigen Dissidenten, das die Sichtweise eines Andersdenkenden
transportiert, der sich an tatsächlichen Wahrheiten orientiert, nicht an
Fiktion.
Ein Aufklärer nach der Aufklärung, ein
Philosoph der Jetztzeit, schreibt anders als der verspielte Ästhet, auch ohne
den moralisierenden Zeigefinger zu erheben – und ohne dabei unliterarisch
schreiben zu müssen.
Historische, politologische,
psychologische und philosophische Kapitel oder Passagen können – vom
aufmerksamen Leser gut von einander zu unterscheiden – durchaus als
eigenständige Betrachtungen, Analysen und Essays neben rein literarischen Texten
stehen. Die zu vermittelnde Botschaft ist dabei wichtiger als die
Form.
Deshalb setzt mein Erinnerungswerk nicht
auf Selbstmythisierung, dies wäre vor dreißig Jahren inszenierbar gewesen,
sondern auf die Authentizität der
Ereignisse und faktischen Abläufe sowie auf die phänomenologische
Beschreibung selbst gemachter
Erfahrungen auf unterschiedlichen Ebenen. Das entspricht dem sachlichen
Anspruch dieses Werkes. Insofern ist das Dargestellte der Bericht eines Zeit-
und Augenzeugen, der durch die Präsentation von objektiven Gegebenheiten aus
fünf intensiven Jahren über historisch-politische Spiegelungen einen
fünfzigjährigen Abschnitt neuester Zeitgeschichte, was der Lebenszeit des Autors
gleichkommt, einzufangen sucht. Die vom Gehirn bereits stark zusammen
komprimierten Jahre 1976-1981 mussten wieder auseinander gezogen und im Detail
rekonstruiert werden, wobei die damalige Sicht der Dinge – mit alle ihren
Vorurteilen und unreifen Unzulänglichkeiten – herüber gerettet werden sollte.
Das Gehirn erinnert sich und leistet diesen Akt, wobei der Autor, das braucht
kaum betont zu werden, natürlich mit seinem gegenwärtigen Geistesinstrumentarium
agiert.
Dem Wirklichkeitsnahen und somit einer
empirisch objektivierbaren Wahrheit wird dabei Priorität vor dem
ästhetisch-literarischen Komplex eingeräumt. Der Verfasser der Symphonie der Freiheit beschreibt
einzelne Phänomene zwar auch literarisch – und er erklärt Phänomene, wo es notwendig erscheint,
auch in abstrakter Metadiskussion, Phänomene, die nur aus der Perspektive des
Insiders, aus dem inneren Erleben der Wirklichkeit und der inneren Schau heraus
thematisiert werden können. Doch auch dieses Vorgehen entspricht der Methode des
philosophischen Schriftstellers, der
in seinem Zugang anders gewichtet und anders wertet als weniger existentiell
orientierte Autoren.
Wer die einzelnen Kreise der Hölle noch
nicht verspürt hat, kann leicht über den Teufel mit der Mistgabel spotten. Doch
wer den Schmerz des Stiches in seinem Allerwertesten fühlte, den Gummiknüppel
auf der nackten Fußsole und den Rücken, wer in Ketten strampelte und Dinge
erdulden musste, die die Grenzen des Menschsein aufzeigen, der wird die Welt mit
ernsteren Augen sehen, bewusster, existentieller und moralischer. Er wird anders
werten und fühlen. Schmerz hat viel mit Wahrheit zu tun. Wer politisch-soziale
Wirklichkeiten in ihrer Negativität erlebt hat, wird notwendigerweise anders
Dinge analysieren und beurteilen als unbefangene Betrachter, kritischer und
schonungsloser. Das Ethos hat für ihn einen anderen Stellenwert eben weil es
existentieller Natur ist.
Wer an der Humanität festhält, und in
diesem Punkt wiederhole ich mich gern und mit Leidenschaft, darf tatsächliche
Abläufe der Geschichte nicht sorglos unterschlagen. Die Fakten müssen
ausformuliert und schriftlich fixiert werden als Beitrag zur objektiven
Wahrheitsfindung, der sowohl der regen und lange noch andauernden Vergangenheitsbewältigung der
involvierten Völker als auch der künftigen Historiographie dient.
Damit ist das objektive Anliegen der Symphonie der Freiheit definiert – ein
Ziel, das natürlich bis zu einem gewissen Grad auch in einem unliterarischen,
nüchtern analytischen Tatsachenbericht hätte erreicht werden können. Hätte ich
ihn trocken und distanziert verfasst, wäre daraus ein politologisch-
gesellschaftskritisches Sachbuch geworden – wieder ein Buch für ein paar
Fachleute aus der Wissenschaft und einige interessierte Laien. Dazu drängte es
mich nicht. Ganz im Gegenteil!
Wenn ich mich gegen eine rein
wissenschaftliche Fassung und für eine freie literarische Form entschieden habe,
dann geschah dies nicht nur aus der Enttäuschung an der allzumenschlichen
Wissenschaft, sondern nicht zuletzt aus literarisch-ästhetischen Überlegungen
heraus und aus dem starken Impetus, auch im Künstlerischen andere und neue Wege
gehen zu wollen.
Weshalb sollte ich ein konventionelles
Werk verfassen, wenn ich gleichzeitig ein freiheitliches Buch zu schreiben
bereit war, ein Buch, das vielleicht doch nicht so verrückt ist, wie es beim
ersten Anblick anmutet?
Nur weil die Verlagswirtschaft zwischen
Belletristik und Sachbuch oder Fachbuch einen Gegensatz konstruiert, der in
Wirklichkeit nicht da ist? Einen Gegensatz, den das wahrhaftig belletristische
Werk aufhebt. Nicht-Fiktion, sprich Wirklichkeit, muss nicht als Antithese zur
Fiktion erscheinen. Nichtfiktion, also Faktisches aller Art in ästhetisch
anspruchsvoller Form, ist der Gegenstand der Belletristik, der schöngeistigen
Literatur, überhaupt. Eben deshalb entschloss ich mich in meiner Symphonie der Worte, das – streng
typologisch gewertet – tatsächlich ein belletristisches Werk ist, gegen die
Monostruktur und für die komplexere Darstellungswiese der von mir erlebten
Wirklichkeiten.
Neue Wege in der Kunst – bis hin zum
avantgardistisch Forcierten, das in eine Sackgasse führt, stießen immer wieder
auf den Widerstand der Krämerseelen. Trotzdem war ich überrascht, auch heute
noch die gleiche Renitenz, Starrheit und Unflexibilität in den Verlagsetagen
vorzufinden, wenn es um die Durchsetzung einer etwas nonkonformistischen
Konzeption ging. Der künstlerisch angehauchte Dissident, der immer schon
opponiert hatte, sollte sich endlich zusammen nehmen und im Stil des Oberlehrers
schreiben! Und dies nur deshalb, weil Vermarktungsgepflogenheiten und
Geschäftspraktiken in der Buchwirtschaft dafür sprachen.
Was ist aus der Freiheit der Autoren geworden? Im
krassen Gegensatz zum Schubladenden kommerziell ausgerichteter Publikumsverlage,
die ein Editionsprojekt nur noch danach beurteilen, ob damit eine hohen
Auflagenzahl erreicht werden kann, entschied ich mich für ein eigenständiges
Buch, fest entschlossen, die freie Konzeption bis zum Ende durchzusetzen, auch
auf die Gefahr hin, das Projekt selbst verlegen zu müssen. Mit Goethe, Schiller
und Nietzsche, um nur einige der ganz Großen zu nennen, wäre ich damit in guter
Gesellschaft.
Einst, als es noch
Verlegerpersönlichkeiten gab und Verlage noch eine geistige Mission erfüllten,
wurden auch noch Bücher verlegt, obwohl keine hohen Verkaufszahlen zu erwarten
waren – nur so, aus Prinzip und um der Sache willen. Doch heute, wo Werte nur
noch in den Sonntagsreden versierter Politiker vorkommen, sind auch diese Zeiten
längst vorbei.
Die Symphonie der Freiheit in starrer Form?
Undenkbar!
Weshalb entschied ich mich ausgerechnet
für eine freie Form - und dazu noch in Anlehnung an die Musik? Weshalb wurde
alles gerade so umgesetzt?
Vielleicht weil im Verfasser auch ein
verkappter Komponist steckt, ein Geist, der seine Themen, Motive, Allegorien und
Symbole nach Strukturen arrangiert, die freiheitliche Momente implizieren, nicht
nach dem fixen Schema einer Fuga?
Vielleicht, weil in ihm ein kreativer
Koch steckt, der neuen Wein in neuen Schläuchen reicht, der antike Rezepte frei
moduliert, um den Gaumen anderer Leute feststellen zu lassen, was daraus
emaniert?
Die freie Form mit unterschiedlichsten
Geschichten für die unterschiedlichsten Leser – und, dies betone ich für taube
Verlegerohren, das können durchaus viele sein – eröffnet im Gegensatz zum kühlen
Tatsachenbericht, nicht nur dem Autor vielfache geistig-künstlerische
Gestaltungsmöglichkeiten. Auch der Leser, der nicht dumm ist, kann sich das
Gesamtwerk oder auch nur Teile daraus im freien Zugang erschließen.
Ein durchaus ernster Stoff wird dabei in
zugänglicher Weise vermittelt – vielfach auch mit einer humoresken Note. Der
Interessierte soll nicht nur traurig werden und der Melancholie verfallen, wenn
er darüber liest, was Menschen Menschen antun und was die Bestie im Menschen
ausmacht. Er soll auch schmunzeln können, wenn er hier blättert und liest.
Trotzdem entspricht dieses Werk dem Pflichtprogramm, wo die Grenzen von Spott
und Lachen erkennbar sind. Die Kür, wo das erlösende und lösende Lachen im
Vordergrund steht, folgt noch – und zwar in einer satirisch-parodistischen
Humoreske, die mehr ist als nur ein Splitter oder Nebenprodukt aus dem
Hauptwerk. Es ist die sublimierte Essenz daraus, sie poetisch-
philosophische Extraktion, die
literarisch wie lebensphilosophisch Wege geht, die ihm Hauptwerk nur angedeutet
werden konnten.
Ohne die gelegentlichen Ausflüge in den
literarisch-künstlerischen Bereich, ins Poetische und Musikalische, in die Welt
der Schöngeistigkeit, hätten eine Reihe aus dem reellen Kontext heraus
beschriebener Phänomene philosophischer und psychologischer Natur nicht in ihrer
vollen Tragweite und Tiefendimension erörtert und beschrieben werden können.
Bestimmte existentielle Phänomene wie Grenzerfahrungen, Ängste, Melancholie, die
sonst nur akademisch abstrakt diskutiert werden, ohne die Menschen zu erreichen,
werden im Handlungsprozess in ihrer Entstehung exponiert, um ihr Verständnis zu
ermöglichen. Das ist ein weiteres Anliegen des literarisch agierenden
Philosophen, der die Philosophie über die Kunst aus den steril abstrakten Hallen
der Akademie herausführen will – hin zu den Menschen.
Was hier in der relativ kurzen Zeit von
zwei intensiven Arbeitsjahren entstand - unter Bedingungen, die so waren, wie
sie waren – will ein, modern gesprochen, interaktives Buch sein; ein Buch der
Neuzeit, das, fern vom Elfenbeinturm, im
Dialog mit dem Leser steht und entsteht; ein Werk, das noch nicht fertig
ist, vielleicht auch nie fertig wird, sondern immer Fragment bleibt – vielleicht aber auch
weiter geschrieben wird, wenn der Leser mir dies signalisiert und bessere
Schaffensbedingungen es ermöglichen.
Ferner behalte ich mir vor, nachdem nun
die dokumentarische Leistung erbracht ist, in einer zweiten Auflage einige Sätze
der Symphonie frei auszubauen und andere wegzulassen. Vielleicht entsteht dann
ein noch freieres Buch, dass noch weniger in die engstirnig kommerziellen Raster
der Verlage passt als dieses hier.
Die Freiheit selbst hat den Charakter meines
Werkes diktiert und seine Form weitgehend mitbestimmt. Sie ist organisch aus der
Materie erwachsen und eben so, weil
ein Autor, der freie Wege geht, auch in Kunst und Geist, sich keiner Zensur unterwerfen darf – weder der
Zensur des Formalen, das nicht einmal literaturwissenschaftlich definiert werden
kann, noch der Zensur des
Kommerziellen, die von einer Handvoll Verlage diktiert wird und sich als Verhinderung eines Buches auswirkt wie die vielen Monopole in der
arg beschränkten freien Marktwirtschaft, die sich selbst ad absurdum geführt
hat. Ein freies Buch ist immer auch ein Experiment.
Viel lieber hätte ich anders über das
große Thema Freiheit geschrieben, nur
aus der Sicht des schaffenden Subjekts heraus, des Künstlers, des verdichtenden
Tonsetzers und gaumenfreudig komponierenden Musikers; mit anderen Akteuren als
den Bestien, die ich in der Darstellung nicht ignorieren konnte und darstellen
musste, weil sie integranter Teil des Geschehens waren und die historische
Materie auch jenes so vorgegeben hat.
Aber schon deshalb ist dies ist kein
selbstgefälliges Art pour L’art- Projekt, das im entrückten Elfenbeinturm
entstand – und, selbstverliebt um sich kreisend, einmal in die Welt geschickt,
seinem Schicksal überlassen wird. Es ist vielmehr ein politisches Buch, das
rezeptionsorientiert geschrieben wurde, also für den Leser, obwohl die Konzeption
eine freie ist, die eine formale
Trennung zwischen schöngeistiger Literatur und sachlicher Abhandlung nicht
akzeptiert.
Wissenschaft, das wussten schon die
Populärphilosophen seit Sokrates und alle großen Dichter, muss nicht immer
trocken sein und menschenfern. Literarischer Avantgardismus und pragmatischer
Nutzen müssen sich nicht gegenseitig aufheben!
Das Werk ist gerade so geschrieben worden, weil es den
potentiellen Leser angeht, weil es
manche aus der Leserschaft, die Teile der Wegstrecke mitgegangen sind,
unmittelbar betrifft. Auch soll die Sache andere Interessierte angehen,
Menschen ohne Vorwissen und den nahen und doch so fremden Raum vor der eigenen
Haustür.
Die Symphonie in zwei Bänden ist in
mancher Hinsicht ein modernes Werk, ein assoziatives Buch mit Wechselwirkung,
das von den neuzeitlichen Informationsmöglichkeiten ausgeht und diese auch
genutzt hat.
Die nicht immer einfache Symphonie der Freiheit mit ihren
wandelnden Perspektiven und Wahrheiten appelliert an ein vernetztes Denken, an
ein enzyklopädisches Bewusstsein, das heute durchaus noch aufrecht erhalten
werden kann, wenn man das humanistische Bildungsideal noch nicht gänzlich
aufgegeben hat. Beide Bände richten sich an einen anspruchsvollen, assoziativ
kombinierenden Leser, der mehr von der ihm noch unvertrauten Welt eines
europäischen Nachbarn erfahren will, viel mehr und Tieferes als es ihm die
gängig geschilderte Story eines zeitgemäßen erotischen Romans bieten kann. Mein
Werk richtet sich an einen Geist, der an interdisziplinären und interkulturellen
Zugangsformen Freude hat, ohne aber nur für die happy few, für eine Handvoll
Intellektuelle, geschrieben worden zu sein.
Einzelne Kapitel, eigentlich
wissenschaftliche Aufsätze, die, um der Lesbarkeit willen, nicht mit einem Berg
von Quellenangaben und Fußnoten überhäuft wurden, haben einen intensiven
Forschungsaufwand erfordert. Die einzelnen Essays ebenso.
Trotz fehlender Fußnoten wird die strenge
Sicht des Wissenschaftlers nicht aufgegeben. Ausgewählte Quellenangaben und
Literaturhinweise erfolgen im Text. Damit ist auch dieses Werk ist,
konventionell gesprochen, in wesentlichen deskriptiv analytischen Partien auch
ein Sachbuch, allerdings in literarisch-künstlerischer Einbettung und mit
entsprechenden künstlerischen Freiheiten, die jeder Geist zu würdigen weiß. Es
folgt damit dem freien publizistischen Ansatz eines Essays, einer
literarisch-wissenschaftlichen Gattung, die in Frankreich immer schon bevorzugt
wurde, und setzt auf den unverkrampften Stil des Hommes des lettres, der sich wohltuend
vom verstaubten Professorenduktus abhebt, und der, frei von vielen Zwängen, sich
im künftigen Europa sicher durchsetzen wird. Leichtigkeit und Zugänglichkeit
genießen Priorität, während auf das literarische Experiment in nuce weitgehend verzichtet wurde.
Ein Franzose, selbst der Akademiker,
würde mein schlichtes Ganzes einen umfangreicheren Essay nennen – eine
Weltbeschreibung in freiartistischer Form, ohne nach engen Gattungstypologien
und eingrenzenden Begrifflichleiten zu fragen.
Um der Wissenschaftlichkeit zu genügen,
die den eigenen Blick bestimmt und den Anspruch, die Materie zu erörtern, ist
mein umfangreicherer Essay mit vielen Gesichtern also auch methodenpluralistisch
und interdisziplinär ausgerichtet - und stilistisch so geschrieben, weil gerade diese Art der geistesgeschichtlichen
Beheimatung des Autors und seinem Literaturverständnis entspricht.
Politologisch-historische Passagen analytischer Art im wissenschaftlichen Duktus
gehalten stehen neben literarischen Abschnitten oder
psychologisch-philosophischen Betrachtungen und Beschreibungen, weil die
Struktur der Symphonie der Freiheit dies als bescheidenes
Gesamtkunstwerk erfordert.
Wird der Leser mit dem scheinbaren Chaos,
in welchem trotzdem Ordnung herrscht, fertig werden? Das fragen skeptische
Verleger. Doch hier irrt die Verkaufszahlen-Empirie. Der Leser ist gescheiter
und gewandter in der Rezeption, als es ihre Verlagsweisheit ahnen
lässt.
Kursivschrift wird als mildes
Gestaltungsmittel eingesetzt. Ohne penetrant oder gängelnd wirken zu wollen,
werden jene Begriffe kursiv hervorgehoben, über welche der Leser – über das
Zitat hinaus – etwas vertiefter nachdenken sollte, wo er bei der Lektüre
innehalten, reflektieren und meditieren kann. Ferner werden offene Strukturen
abgedeutet, die dort entstehen, wo kein gängiges System
greift.
Diese zunächst dokumentarisch-analytisch
konzipierten Erinnerungen, die ich allerdings nicht mehr Memoiren nennen will, nachdem ich in
einer Hausbibliothek mit zwölf Büchlein die Lebensbeschreibung einer
Prostituierten unter gleichem Titel vorfand, entwickelten sich im Verlauf der
Ausarbeitung mehr und mehr zu einem belletristischen Werk, in welchem, neben der
politisch und historischen Sachdiskussion, die der Materie immanent ist,
zunehmend die individuelle Form eines eigenen literarischen Stils in den
Mittelpunkt trat.
Autobiographische Skizze, Erzählung,
Reflexion und Essay als eigenständige Einzelkreation formen zusammen genommen
hermeneutisch gesprochen ein Ganzes, das kein Ganzes sein will, weil es offen
bleibt, ein kleines Universum, in welchem sich die Einzelkomponenten verhalten
wie der Mikrokosmos zum Makrokosmos. Die einzeln antizipierten Phänomene werden
im Ganzen noch erweitert und vertieft.
How to read?
Das fragte Ezra Pound einst, als er über
Sinn und Unsinn von Literatur nachdachte.
Doch gibt es eine Anleitung, Bücher zu
lesen, ohne seine Zeit zu vergeuden? Vielleicht! Als all dies niedergeschrieben
wurde, hatte ich die wertvolle Zeit des Lesers nicht ganz vergessen. Deshalb
schrieb ich oft in nuce – und oft
leider mit gezogener Handbremse, wobei ich nur etwas von der Welt, die ich
beschreiben wollte, einfangen konnte. Balzac und Zola, Thomas und Heinrich Mann
sowie ein paar andere Romanciers, die nur Schriftsteller sein durften, hatten
mehr Raum und Zeit.
Gehetzt schrieb ich gegen Hetze und für
symphonische und symphilosophierenden Zusammenklang und angstgetrieben, die
Aufgabe nicht adäquat bewältigen zu können. Dabei schrieb ich höchst ungern in
der oft unvermeidbaren Ich-Form. Nicht die moderne Romantheorie, nur die innere
Wahrhaftigkeit legte mich auf die Ich-Perspektive fest.
Und, was die objektive Glaubwürdigkeit
meiner Aussagen angeht, halten sich noch andere Zeitzeugen bereit, Menschen mit
gutem Gedächtnis, die bestätigen können und dementieren. Wir opponierten
seinerzeit nicht im luftleeren Raum, noch im Verborgenen und auch nicht in der
Scheinwelt des Algabal.
Der Leser wird selbst entscheiden, ob er
der Beschreibung tatsächlicher Wirklichkeiten mehr vertraut als surrealer
Fiktion; und ob dieser Stil ihn mehr anspricht oder eine andere Art,
Wirklichkeiten und Zerrbilder zu Literatur zu
machen.
Ein freies und offenes Buch – und die Symphonie der Freiheit ist ein
freiheitlich offenes Buch - wird dem Leser keine Zwänge auferlegen. Er muss
nicht alles lesen, um eine andere Welt kennen zu lernen – und Phänomene, die nur
aus dem Detail hervor scheinen. Der werte Leser kann in freier Selbstbestimmung
das Werk irgendwo aufschlagen und in
den Geschichtlein und Geschichten, über Geschichte und Zeit, über Freiheit, Wahrheit und Gerechtigkeit,
mit Einblicken in die Welt, in der wir wirklich leben – und dort mit dem Lesen
beginnen, wo es ihn lockt, neue Dinge zu erfahren, vor allen neue Gedanken und
ungewohnte Assoziationen von Ideen.
Wenn es ihm gefällt, was es liest, kann
er an anderer Stelle weiter lesen. Von hinten nach vorn – oder nur das
Inhaltsverzeichnis, wie ich es selbst oft praktiziert habe; oder einzelne
Kapitel aus dem weiten Geschehen als Anregung oder kurzweilige Entspannung.
Er kann aber auch ganz gewöhnlich lesen
wie seit Jahrtausenden im Abendland - von Alpha bis Omega. Dann wird er viele
unterschiedlich gestaltete Einzelteile vorfinden, Sujets teils mit Substanz, die im inneren Zusammenhang
stehen, doch nicht im System
angeordnet, sondern in der offenen
Struktur; Texte, die allesamt auf ihre Weise das Hauptphänomen Freiheit umkreisen und darlegen, wie
vielfältig sich die Reflexionen dieses Begriffes allein in der deutschen Sprach
gestalten.
Oder er kann sich anderen
Erscheinungsformen der Freiheit
widmen, Epiphänomenen und Emanationen der Freiheitsidee, der Humanität, der
Wahrheit, der Identität und der viel verpönten Heimat.
Er wird ein farbenfrohes Mosaik
vorfinden, eine bunte Welt der Worte, viele Splitter, die sich zu einem offenen
Ganzen formen, zu einer größeren, noch nicht abgeschlossenen Lebensgeschichte
mit dramatischen und mit tragischen Komponenten, doch mit einem vorläufigen
Happy End.
Er wird schlicht vorgetragene Erinnerungen vorfinden, bescheidene
Aufzeichnungen, die sich zum einem fragmentarischen Lebensroman zusammenfügen, zu einem
autobiographischen Roman, der literaturtheoretisch bewertet nur bedingt einer
ist. Das Buch ist vielmehr eine realistisch gehaltene Zeitstudie, die zwar nicht
die gesamte Existenz einfängt, aber repräsentative Teile daraus in einer
bestimmten Zeit, wobei möglichst viel von der damaligen Erkenntnisweise
herübergerettet werden soll – die Perspektive eines jungen Menschen in der
Revolte gegen eine selbstherrlichen Staat.
Dargestellt werden allerdings nur jene
biographischen Abschnitte, die zur Erklärung von Dissidenz und Widerstand notwenig sind. Dabei
erschließt sich dem Leser das Psychogramm
einer Diktatur.
Die Kerngeschichte der Symphonie der Freiheit und des zweiten
Teils Gegen den Strom – Deutsche
Identität und Exodus, der Weg eines Jugendlichen aus dem Banat in die
Auseinandersetzung mit einem totalitären Staat und das unfreiwillige
Hineinschlittern in die Dissidenz, wird, umrahmt von Elementen einer
musikalischen Komposition, in mehreren
Sätzen einer sprachlichen Symphonie eingefangen.
Der Symphonie-Begriff markiert die offene Struktur des
Ganzen, während die Freiheit das
tragende Thema ist, das Hauptphänomen, dem alle anderen Motive, auch der Widerstand, nachgelagert sind. Freiheit
– großes Thema mit Variationen bis hin zur Destruktion des Ideals in der freien
Welt des Westens. Die vielen Facetten und Nuancen der großen Thematik werden
dabei literarisch zum Zusammenklang
gebracht.
Die Geschichte selbst, in welcher der
Name des Protagonisten unwichtig ist, steht repräsentativ für vergleichbare
Schicksale, speziell im zweiten Band, die von anderen Menschen aus dem
ehemaligen Ostblock und in anderen Diktaturen der Welt ähnlich erlebt wurden.
Neben der Gewerkschaftsgründung, die eine
reale Einzelgeschichte ist, umkreisen verweisen die zahlreichen Miniaturen,
Erzählungen und Essays, das Kernmotiv wie Planeten ihre Sonne, und bilden
zwischen Prolog und Epilog angesiedelt, einen Rahmen des
Gesamtgeschehens, das die jüngste rumänische Vergangenheit und die aktuelle
Situation in Rumänen einzufangen sucht. Der Rhapsodische Block verweist noch einmal
auf die Priorität der freien Form des Dionysischen vor der Begrenztheit des
apollinischen Systems. Auf diese Weise entsteht ein Ausschnitt aus einer
intensiv erlebten Zeit und einer Welt, Vergangenheit spiegelnd und in die
Zukunft ausstrahlend.
Ohne den Anspruch, eine ausführliche
Autobiographie sein zu wollen, wurde diese Sammlung von Geschichten und Essays
in erster Linie für den westlichen Leser geschrieben, für den Deutschen, den
Österreicher, den Schweizer, den Franzosen, der sich für das noch ferne Volk der
Rumänen interessiert – aber auch für das Schicksal der deutschstämmigen
Landleute vor seiner Haustür, die unter den Völkern des Ostens aufwachsen und
die Kriegsfolgen austragen mussten.
Meine Symphonie soll auch eine geistige
Heranführung sein an eine noch junge
europäische Nation, die durch die Jahrhunderte der Geschichte ihrer
Selbstwerdung oft selbst Opfer mächtigerer Konstellationen war, aber auch ein
Element der inneren Versöhnung unter
Deutschen.
Banater Schwaben und Siebenbürger Sachsen
werden hier etwas von ihrem Ringen um die schwer zu wahrende, eigene Identität
wieder finden und einiges, was ihnen vielleicht aus der Seele spricht, während die genuinen
Rumänen selbst, denen hier nochmals die versöhnende Hand gereicht wird, gerade
in Gegen den Strom mit der
Perspektive eines Deutschen konfrontiert werden, der sie aus einer Minderheit
heraus, aber auch von der eigenen kulturellen Warte aus betrachtet.
Keiner aus den im Werk thematisierten
Völkern und Volksgruppen wir nur Harmonistisches vorfinden, dem er
uneingeschränkt zustimmen kann - doch das liegt im Wesen der Sache. Im
Blickpunkt des Autors steht, fern von schönfärberischem Harmoniestreben, die
tatsächlich erlebte realsozialistische Gesellschaft in ihrem Querschnitt
darzustellen – immer aus der Perspektive des Ankämpfenden, des politisch
Andersdenkenden, der manches anders sah, der aber auch heute weit davon entfernt
ist, eine ideologische Abrechnung betreiben zu
wollen.
Geisteswissenschaftlich betrachtet,
versuchte ich, zusätzlich die Sicht des
Philosophen einzubringen. Da dieser der historischen Wahrheit und dem Ethos
mehr verpflichtet ist als der absolut frei und somit wertungsfrei gestaltende
Dichter, wird er – bis zu einem gewissen Grad auch aus südosteuropäischer Sicht
– politisch-gesellschaftlich doch wesentlich anders werten, indem er aufgrund
seiner Erfahrungen existentielle wie ethische Prioritäten setzt, wobei die
Klarheit eines Descartes zum Vorbild wird: Nicht Verdunkelung ist angesagt, kein
Obskurantismus im neuen hermetischen Gewand des Irrealen, Surrealen und
Unmoralischen, sondern ein spätaufklärerisches Erhellen – als Existenzerhellung
und als Welterhellung.
Der Leser kann in der Symphonie der Freiheit selektiv lesen
und nur Teile rezipieren. Er kann auch nur einige Wahlsprüche lesen, jene bunten
Federn großer Geister, aus welchen stets die zu exponierende Idee hervor
scheint, ohne dass diese näher abgehandelt wird.
Der potentielle Leser darf aber auch von
seiner absoluten Freiheit Gebrauch
machen und dieses vielleicht verrückte Buch unbesehen links liegen lassen! Oder
auch rechts!
Doch wenn er sich zum Lesen überwindet,
was heute schon selten ist, wenn er den einzelnen Essay überfliegt, das Zeugnis,
die Erzählung, und darüber tiefer räsoniert, wird er manche dort versteckte Idee
vorfinden, die ihm vielleicht neue Denkimpulse vermittelt.
Er wird dort Heiteres antreffen und
Ernstes. Er wird auf Tristes stoßen und Lustiges; auch auf jene Spur Bitterkeit,
die nur einer ganz unterdrücken kann, der über dem Leben steht. Er wird auch
manchen Selbstzweifel entdecken und Spuren anderer Zweifel, die nicht weichen
wollten. Er wird Humanes vorfinden und Unmenschliches. Und er wird auf einiges
stoßen, was ihn zu noch tieferem Nachdenken veranlassen wird, auch über die Welt
der Uneigentlichkeit um ihn, die ihn festlegt und bestimmt.
Er wird mit positiven Phänomenen
konfrontiert werden, mit freiheitlichen Gedanken, mit Wahrhaftigkeit, mit
Menschlichkeit in vielen Formen, aber auch mit überbordender Heuchelei und mit
dem immer noch nicht vertilgten Ungeist der Hetze und der Negativität in
unterschiedlichen Erscheinungsformen. Heuchelei und Hetze aber sind in allen
ihren Formen trennend und spaltend und somit Gegensätze, ja Feinde des
symphonischen Zusammenklangs zu Wahrheit und Freiheit.
Neben dem historisch notwendigen Aspekt,
ein Zeugnis formulieren und Tatsachen dokumentieren zu müssen, verbinde ich mit
der Symphonie der Freiheit auch noch
einige persönliche, subjektive Ambitionen, essentielle Zielsetzungen, die sich,
was die Identitätsfindung betrifft, primär an meine direkten Nachkommen richten.
Meine beiden Töchter Melanie und Julia
sollen, wenn sie wie ich einst nach ihren Wurzeln suchen und ihrem Selbst, mehr
über ihren Vater erfahren, als ich über meine Vorfahren erfahren durfte.
Dem alten Erkenne dich selbst der Griechenwelt,
das ein Leben lang anhält, geht die Selbstfindung über die eigene Identität
voraus, insofern man offen und bewusst lebt und sich nicht hinter einer
Pseudoidentität verschanzt. Auch ich lebte zu lange in der Pseudoidentität und
der Pseudoexistenz der Uneigentlichkeit, bevor ich zur alten Freiheit wieder
fand und zur existentiellen Selbstkorrektur. Mit 50 Jahren die Memoiren
schreiben, Bilanz ziehen, Fragen stellen – das ist eine gute Möglichkeit,
korrigierend auf die künftige Existenz einzuwirken, Die Vergangenheit ändern wir
nicht mehr – doch wir können die Zukunft kreativ und positiv gestalten, für uns
und für die anderen.
Ferner dokumentiere ich in meiner
provisorischen Bilanz auch einiges für gute Freunde, für jene, die mich über
Jahre zur Niederschrift drängten, weil auch sie glaubten, dass einiges von dem
verwerflichen Geschehen in einer Schreckensherrschaft für künftige Generationen
festgehalten werden muss. Als schrieb ich auch repräsentativ für langjährige
Wegbegleiter im Auf und Ab des Lebens und für Menschen aus meinem weiteren
Lebensumfeld, die mir auf ihre Weise nahe stehen.
Und nicht zuletzt schreibe ich natürlich
– wie die meisten Schriftsteller dieser Welt - für den mir unbekannten Leser,
doch nur für denjenigen, der unvoreingenommen auf einen offenes Buch zugehen kann, auf ein Werk,
das trotzdem seinen weltanschaulichen Standort hat.
Die tausend Seiten einer Symphonie der Freiheit sind für einen
Leser bestimmt, der an einer freien
Konzeption seine Freude hat, am Spiel der Worte und der Gedanken, und diese
Freiheiten des Geistes zu genießen weiß.
Je mehr unbekannte Gourmets an meiner
Tafel sitzen, an meinem Wein nippen, an meinem Gericht knabbern und probieren,
desto eher erreicht diese Kreation, die vor der Häme der Tangierten nicht gefeit
ist, ihr Ziel. Doch die Häme kenne ich seit zwei Jahrzehnten. Sie schockte mich
zwar und bremste mich aus – doch sie war nicht stark genug, um mich auch zu
vernichten. Mein Frühwerk lebt und wirkt, weitaus mächtiger als je
zuvor!
Meinen eigenen Kindern aber, und nicht
nur ihnen, sondern allen jungen, unverfälschten Aufstrebenden will ich mit
diesem Werk ein geschriebenes Vermächtnis hinterlassen, ein Testament, das nicht
beim Notar eröffnet wird, eines, das keine materiellen Werte transportiert,
sondern geistige Botschaften, die besagen, dass sich der Kampf um Werte immer lohnt, trotz
implizierter Rückschläge.
Sie mögen selbst erkennen, dass geistige
Herkunft und Tradition keine leeren Wahnvorstellungen sind, kein Chimären und
Illusionen, denen man vergebens hinterher jagt, sondern Fundamente, auf denen
die eigene Identität und das
souveräne Selbst aufgebaut werden - ganz nach dem Motto Nietzsches aus Ecce Homo: Ja, ich weiß, woher ich stamme,
das sich leitmotivisch durch dieses Buch zieht.
Mein Testimonium schreibe ich im Geist
der Antike als Apologie der eigenen Existenz und als Rechtfertigung des
beschrittenen Weges – auch im Künstlerisch-Wissenschaftlichen - in einer arg
verfahren Welt der Materie, die das Geistige in vielfacher Form preisgegeben und
die den geistigen Menschen fast vergessen hat, aus einem moralischen Impetus
heraus, so wie es die selbst sprechenden Fakten vorgeben, ungeachtet aller
Toleranz, teils als Klage und, wo es Verbrechen tangiert, auch als Anklage in
schärfster Form. Das J’accuse des
Zola kann fast überall auf dem Globus ausgesprochen werden. Ich beschrieb nur
einen Winkel.
Ich lebe mein Leben in wachsenden Ringen,
die sich über die Dinge ziehn, dichtet Rilke im Stundenbuch. Diese Publikation knüpft an
das Bild des großen Poeten an und zeigt in wechselnder Perspektive von innen
nach außen und von außen nach innen die sich ändernden Lebenslinien des Menschen
im Fluss. Es zeigt vielschichtige Entwicklungen auf, den viel sagenden
Jahresringen eines Baumes gleich, die, vordringend bis zum Wesenskern, aus dem
alles emaniert, Auskunft geben. Auskunft über die Güte des Jahres, über sie
Höhen und Tiefen eines Lebensprozesses.
Nietzsches Diktum, jeder große
Schriftsteller schreibe eigentlich nur ein Buch; alles andere seien Vorrede,
Nachreden, Kommentare dazu, stand Pate bei diesem bescheidenen Versuch, etwas
aus der eigenen Existenz in einen größeren Kontext rücken zu wollen. Die
Einzelgeschichten stehen, wie bereits hervorgehoben, in einem
gesamtkonzeptionellen Zusammenhang, ganz wie die existentielle
Erkenntniserfahrung in den gesamtphilosophischen Kontext eingebettet
wird.
Als dieses Werk im Schreiben heranreifte
und wuchs und wuchs bot ich es frühzeitig größeren Verlagen an unter dem Titel:
Gegen den Strom – Eine Symphonie der
Freiheit. Inzwischen, wenige Monate vor der Veröffentlichung, entschloss ich
mich dann, dass sehr umfangreiche Werk in seine zwei organisch gewachsenen Teile
aufzuspalten, allein aus editorischen Gründen.
Somit liegen nun zwei Werke vor, die eng
miteinander verknüpft sind, Siamesischen Zwillingen gleich und mit dem Hauch des
Janusköpfigen ausgestattet, zwei Bücher, die um ein großes Thema kreisen, um den
Freiheitskampf im Widerstand.
Während die Symphonie ein Buch über Rumänien ist,
das darlegt, was Terror und Angst vermögen, umschreibt der zweite Band Gegen den Strom das Schicksal der
Deutschen Minderheit in Rumänien und erklärt die Gründe des
Exodus.
Lenau glaubte einmal sich dafür
entschuldigen zu müssen, dass sein Herzblut in einem bestimmten Werk nicht
regelmäßig verströmt sei. Das gleiche Phänomen kennzeichnet auch diese Bücher –
die Betroffenheit blieb, auch nach fast dreißig Jahren Distanz zu den
Geschehnissen. Chaos und Schrecken lassen sich nicht so gleichmäßig darstellen,
wie es der deutsche Professor, der viel vom Leben weiß, erwartet. Das Leben, das
sagte ihm auch Nietzsche, ist chaotisch – und jede seiner Darstellungen bricht
sich, wie Zola betont, in einem Temperament – und in einer Betroffenheit, die
nie aus der Welt zu schaffen ist. Wer schlimme Dinge erlebt hat, weiß
davon.
Authentisch ist alles, was ich selbst
erlebt habe. Alle anderen Zusatzinformationen, die den Hintergrund zur eigenen
Erlebniswelt bilden, wurden so gut wie möglich in langwieriger Forschungsarbeit
recherchiert; und alle Gespräche mit Persönlichkeiten der Zeitgeschichte, die
ich zum Teil vor vielen Jahren geführt habe, wurden nach bestem Wissen und
Gewissen rekonstruiert, wobei der Geist der Gespräche über das exakte Wort
gestellt wurde. Deshalb wurde – in einer freiwilligen Konzession – der Literat
manchmal dem Wissenschaftler und der Dichter gelegentlich dem Denker
untergeordnet, damit auch bei mir Aristoteles über Platon hinausgeht.
Neben der Antike, deren humanistische
Leistung in diesem Werk mit gewürdigt werden soll, dem Mythos und dem Symbol,
schwingen hier noch zwei weitere Substanzen mit, die heute ebenfalls auf der
roten Liste stehen: die Freundschaft und die Loyalität.
Es sind zwei Tugenden, die ich vielfach
erfahren durfte, Werte, die das Menschsein mit
ausmachen
Der große Report zur Analyse der kommunistischen Diktatur in
Rumänien hat vieles an Fakten und Phänomenbeschreibungen zu Tage gefördert,
was an dieser Stelle im Vorfeld erarbeitet wurde – und er hat vieles davon
bestätigt. Gleichzeitig hat das dokumentative wie analytische Werk der fast
fünfzig Autoren um Professor Vladimir Tismăneanu, das in seiner Art einzigartig
ist, noch einmal meinen Blick auf Essenzen gelenkt und eine zusätzliche
Fokussierung der Themen ermöglicht. Dafür bin ich dankbar und hoffe, dass sich
das große Aufarbeitungswerk, dass sich, ungeachtet seines hohen Wertes, nur als
erster Schritt auf einem langen Weg der Vergangenheitsbewältigung versteht, auch
in andern Sprachen Verbreitung findet, damit ihm die generelle Wertschätzung
zukommt, die es verdient. Aus vielen Einzelbeiträgen und Sichtweisen formt sich
irgendwann ein Ganzes, das der historischen Wahrheit und der gesellschaftlichen
Gerechtigkeit nahe kommt. Mein Beitrag ist nur ein Baustein an einer großen
Pyramide, die zum Licht des Himmels strebt.
Die Welt ist bunt. Etwas von der
Farbigkeit ist in dieses Buch mit eingeflossen; auch einiges von ihrer
Mehrdeutigkeit und Relativität. Obwohl der Ernst der Materie teilweise die
Grenzen der Enttäuschung tangiert, bleibt noch viel Raum für das Phänomen des
Schönen, teils als Poesie – und noch ausgeprägter als Musik.
Etwas von dem, was das Wort der Musik
noch an Erklärendem hinzufügen kann, auch an Nachdenken über Musik, wurde in
diesem Buch ebenfalls versucht, soweit es die Konzeption gestattete. Vielleicht
erklingen einmal in einer späteren Hörbuchfassung auch die genialen
Kompositionen an jenen Stellen, wo sie eingearbeitet wurden, wie im Film als
Zeugnis eines individuellen Musikgeschmacks, der von Idee der Freiheit diktiert
wurde.
Die Symphonie der Freiheit ist ein offenes Buch für freie Geister der
Jetztzeit, ohne sieben Siegel; ein Buch für jedermann, der sich nicht festgelegt
und kritisch mit unserer vernetzten Welt auseinandersetzt. Es ist kein Werk für
rückwärtsgewandte Nostalgiker, die, in ideologischen Scheuklappen gefangen, an
der Statik einer weitgehend untergegangen Welt von Gestern festhalten, aber ein
Stimulans für Freunde der reflektierten Reminiszenz, die bewusst auf ihre eigene
Geschichte in der Gesamtgeschichte zurücksehen, sie analysieren und ganzheitlich
deuten.
Die Symphonie der Freiheit soll eine Brücke
sein für europäisch ausgerichtete Menschen, die auf tradierten Werten aufbauend
mit selbstbewusster, nationaler wie individueller Identität sich einem näher
rückenden Volk und Land interessiert zuwenden
wollen.
Banater Schwaben, Siebenbürger Sachsen,
Sudetendeutsche, Schlesier, Russlanddeutsche und zahlreiche Auslandsdeutsche aus
anderen Gegenden Osteuropas und der Sowjetunion hatten - beginnend mit den
Anfängen der Kolonisation bis hinein in die jüngste Auseinandersetzung mit den
kommunistischen Regierungen der Nachkriegszeit - in ihrem Ringen um nationale Identität und auf ihrem Weg in
die individuelle Freiheit viel zu
leiden. Alles, was über Generationen aufgebaut wurde, ist heute, über materielle
Güter hinaus, weitgehend verloren: Heimat, Geborgenheit, Freundschaft,
Identität – vieles als Opfergabe an die Freiheit! Nachdem mein erstes Buch dem
Freiheitshelden Lenau galt, widme ich
die Symphonie der Freiheit und somit
das Buch, das ich als mein eigentliches ansehe, nicht nur meinen beiden Töchtern
Melanie und Julia, die Teil meines Selbst sind, sondern allen Adepten und
künftigen Aspiranten der Freiheit:
Den Heroen aller Nationen, die den Kampf für die große Idee zu allen Zeiten in
allen Formen austrugen - und jenen Unbekannten, die für den hohen Wert ihr Leben
hingaben.
Diese Schrift eigne ich der großen Volks-
und Leidensgemeinschaft zu, aus der ich selbst stamme und der ich mich sehr
verbunden fühle, weil sie ihr Opfer mit Würde trug.
Im Besonderen aber widme ich die
Symphonie der Freiheit den aufrechten Charakteren unter den Deutschen,
die in jüngster Vergangenheit gleich gegen zwei totalitäre Machtssysteme
anzukämpfen hatten.
Die Symphonie der Freiheit soll eine große
Hommage sein an den Deutschen
Widerstand, der sich gegen
Nationalsozialismus und
Stalinismus richtete und
der von Menschen getragen wurde, die ein anderes Deutschland
repräsentierten.